SHINE: Sommersemester 2001

Ringvorlesung Genie

Balz Engler

Genie: eine Anleitung; oder, wie Shakespeare dazu wurde



(Dies ist die Einleitung zur Ringverlesung zum Thema "Genie", die im Sommersemester 2001 an der Universität Basel vom Projekt "Shakespeare in Europe" veranstaltet wurde. Er fand am 9.5.01 statt. Der Text wird hier ohne Quellenangaben und Anmerkungen wiedergegeben; diese können beim Autor bezogen werden: Balz.Engler@unibas.ch).

 

Ich habe das Vergnügen, den ersten Vortrag in dieser Reihe über das Genie halten zu können. Dies bürdet mir allerdings gleichzeitig die Aufgabe auf, allgemeine, einführende Dinge zum Thema zu sagen, etwas, was ich nur als Bürde empfinde, weil es meine Zeit beschränkt, über jenes Genie - wenn er denn eines ist - zu reden, das mir von meiner Forschungstätigkeit her am nächsten steht.

Mein Vortrag hat drei Teile: Ich werde zuerst etwas darüber sagen, weshalb diese Reihe überhaupt stattfindet, mich dann dem Begriff des Genies zuwenden und schliesslich Shakespeare als ein Beispiel kurz vorstellen.

Weshalb also diese Reihe? Es gibt dafür einen Anlass und viele guten Gründe. Der Anlass: Am Englischen Seminar haben sich Forscher zusammengetan, um verschiedene Aspekte der Shakespeare-Rezeption in Europa zu untersuchen; wir tun es unter dem Namen "Shakespeare in Europe" oder "SHinE". Im Herbst organisiert diese Gruppe eine internationale Konferenz in Basel mit dem Thema "Shakespeare in European Culture" (ja, in der Einzahl). Daran beteiligen sich Anglisten aus fünfzehn Ländern.

Aber das Thema ist ja interdisziplinär, und so bot es sich an, im Vorfeld der Konferenz einen Aspekt des Themas herauszugreifen und unter Beteiligung von Dozierenden aus verschiedenen Fächern zu beleuchten. Aber warum der Aspekt des Genies?

Damit bin ich bei den guten Gründen; und ich will nur drei nennen: das Genie als ein Phänomen, das den europäischen Kulturen gemeinsam ist; die gegenwärtige Situation in der Forschung; und die Befindlichkeit der Geistes- und Kulturwissenschaften.

(1) Die Bedeutung des Genies als Begriff ist den westlich-europäischen Kulturen gemeinsam und unterscheidet sie von andern, in denen das Individuum und seine schöpferische Leistung weniger hoch veranschlagt werden. In Europa hat sich, wohl beginnend mit Michelangelo und Leonardo, eine Vorstellung des Künstlers und der Künste herausgebildet, die sie vom Handwerk und von der Dienlichkeit ablösen, und im späten achtzehnten Jahrhundert im Geniekult ihre Apotheose erfahren. Der Begriff eignet sich deshalb dazu, die Verschiedenheiten der Kulturen an einer modernen Gemeinsamkeit - nicht an den gemeinsamen antiken Wurzeln - zu untersuchen.

(2) Dem Begriff des Genies ist es in letzter Zeit nicht gut ergangen. Allzu häufig haben sich Genies als Schwindler erwiesen, vor allem auf einem Gebiet, wo der Begriff als Klischee noch verwendet wurde: den Finanzen. Das Vertrauen darein, dass das Unvorherbestimmbare, das Nicht-Nachvollziehbare, und damit auch das Unberechenbare, auch etwas Gutes sein könnte, ist geschwunden. Wenn überhaupt darüber geredet wird, so ist es am ehesten dort, wo es darum geht, die Voraussetzungen einzugrenzen, die seine Nutzbarkeit sicherstellen.

In der Forschung hat sich in den letzten zwanzig Jahren immer mehr die Formulierung von Programmen, ja von Schwerpunkt-Programmen durchgesetzt. Man legt fest, auf welchen Gebieten in Zukunft geforscht werden soll - die Akademien sind im Moment daran, die Forschungsthemen für den Horizont 2008 zu bestimmen. Diese Programme binden die Forschenden auf lange Zeit in grosse Organisationen ein und weisen ihnen ihre Nische zu. Je genauer die Resultate ihrer Forschung vorausgesagt werden können, desto grösser sind die Chancen, Geld für die Realisierung ihres Projekts zu bekommen. Damit lässt sich das fördern, was Thomas Kuhn "normale Forschung" genannt hat - deren Wert nicht zu unterschätzen ist -, das geduldige Absuchen immer grösserer Gebiete nach vorgegebenen Regeln. Überraschungen, böse wie schöne, bleiben einem weitgehend erspart.

Es ist in diesem Zusammenhang erfreulich, dass der neue Präsident des Schweizerischen Wissenschafts- und Technologierats, Gottfried Schatz, dazu aufgerufen hat, nicht Programme, sondern begabte Menschen zu fördern.

(3) Bedenklich scheint mir allerdings auch eine Entwicklung auf dem Gebiet der Geistes- und Kulturwissenschaften, eine Entwicklung, die ich lange mit Interesse und Sympathie verfolgt habe. Sie macht mir nun Sorge, da sie im Klischee zum Stillstand gekommen ist. Hier ist es Brauch geworden, vor allem im Gefolge von Michel Foucault, die Rolle des einzelnen Menschen für die Gestaltung seiner Umwelt in Frage zu stellen.

Betont wird dagegen die Rolle von Regeln, Konventionen, Strukturen, die es uns überhaupt erst möglich machen, gewisse Dinge zu denken und entsprechend zu handeln. Diskurs ist der Begriff, der dafür angewendet wird, Diskurse, die wir nicht schreiben, sondern von denen wir geschrieben werden.

Der Erfolg dieser Sicht der Dinge beruht sicher darauf, dass eine andere, die ihr vorausging, so schlimm abgewirtschaftet hatte - zumindest in unsern Disziplinen; unter Naturwissenschaftern ist sie noch verbreitet: die Sicht, die als selbstverständlich voraussetzt, das Individuum in seiner Autonomie könne stets frei wählen, und eine objektive Wirklichkeit bestimme allein, was Geltung hat.

Wo die Macht des Diskurses anerkannt wird, kümmert man sich meist wenig darum, wie er entstanden ist und Geltung erlangt hat (vgl. etwa den New Historicism). Dies kann eine Haltung stützen, die man früher als Schicksalsergebenheit bezeichnet hätte. Es ist eine Haltung, welche durch die Lebenserfahrung manchen Wissenschafters in den Geistes- und Kulturwissenschaften legitimiert scheint. Sie ist geprägt durch das Gefühl, in immer grössern, undurchsichtigen und unbeeinflussbaren Strukturen eingespannt zu sein. Man könne eh nichts machen als ausharren.

Was dabei übersehen wird, ist, dass verschiedene unvereinbare Diskurse - im kleinen Rahmen etwa jene verschiedener Disziplinen - nebeneinander existieren, interagieren und miteinander in Konflikt geraten können, ja müssen. Wo sie aufeinanderstossen, ist der Ort, an dem sich Kreativität entfalten kann, an dem Diskurse, die uns eine andere Sicht auf die Dinge verstellen, aus den Angeln gehoben werden können - vielleicht durch Genies.

Damit bin ich bei meinem zweiten Punkt. Was ist ein Genie? Das Wort wurde im 18. Jahrhundert, wie seine Aussprache noch zeigt, aus dem Französischen übernommen, und wurde anfangs auch als Maskulinum verwendet. Das deutet auf seinen lateinischen Ursprung hin, auf den Geist, der an einem Ort herrscht ("genius loci"). In einem ähnlichen Sinne - geradezu der Bedeutung von Diskurs - kommt das Wort auch beim englischen Dichter und Kritiker John Dryden vor, wenn er sagt: "Every age has a kind of universal genius, which inclines those that live in it to some particular studies." Offenbar unter dem Einfluss von ingenium nahm das Wort dann seine heutige Bedeutung (und das neutrale Geschlecht) an. Es konnte herausragende Gaben oder einen Menschen, der diese aufweist, bezeichnen.

Im Folgenden konzentriere ich mich auf den Menschen. Dazu gibt es in der Psychologie, in der Kreativitätsforschung, eine umfangreiche Literatur; Hans Lenk gibt einen Überblick über sie, in seinem Buch Kreative Aufstiege: Zur Philosophie und Psychologie der Kreativität (Frankfurt: Suhrkamp, 2000). Bezeichnend ist, dass sich Kreativität umkreisen, benennen, aber kaum erklären lässt. Ich kann nur einzelne Punkte herausgreifen. So hat man verschiedene Typen des Genies unterschieden, etwa nach der Fähigkeit, Probleme zu lösen oder Neues zu schaffen. So hat man die Biographien von Menschen untersucht, die gemeinhin als Genies gelten, um gemeinsame Züge festzustellen. Zu ihnen gehören so verschiedene Menschen wie Sigmund Freud, Pablo Picasso, T. S. Eliot, Igor Strawinsky und Albert Einstein.

Es ist übrigens bezeichnend, dass alle Genannten Männer sind. Das Genie ist eine Männerphantasie. Aber darauf wird ein späterer Vortrag eingehen. Immerhin bitte ich sie, auch in diesem Zusammenhang auf die beschriebenen Charakterzüge zu achten, und auf die Metaphorik, die für die Tätigkeit des Genies verwendet wird.

Die Züge, die diesen Genies gemeinsam sind, fasst Lenk, nach Howard Gardner, wie folgt zusammen:

Insgesamt sind Egozentrik, ja Egoismus und Narzissmus - zum Teil Gleichgültigkeit gegenüber anderen, Schwierigkeiten mit der Soziabilität und des Umgangs oder gar […] ausbeuterische Tendenzen […] zu finden. Zudem ist eine Unbefangenheit oder Kindhaftigkeit im Verbund mit Selbstbezogenheit und der Meisterschaft in der spezifischen Domäne der kreativen Tätigkeit charakteristisch […]. Darüber hinaus die Randstellung oder Marginalität, die ein soziales oder intellektuelles Aussenseitertum […] darstellen kann und die insbesondere die Zeitspanne des Durchbruchs und einer entsprechenden Isolation charakterisiert.

Ferner stellte Gardner zu seiner Ueberraschung bei allen seinen Probanden "Aktivitäten und Verhaltensweisen fundamental abergläubischer, irrationaler oder zwanghafter Natur" fest. Schliesslich fällt ihm auf, dass diese kreativen Menschen kreativ sein wollen, hart und ausdauernd arbeiten und dauernd produktiv tätig sind; ja, er zeigt, dass ihnen ein Durchbruch ungefähr alle zehn Jahre gelingt.

Was die Kreativitätsforschung ebenfalls gezeigt hat, und was es verdient, hier besonders erwähnt zu werden: Kreativität lässt sich, im Unterschied zu Fleiss, nicht durch Belohnung, durch finanzielle Anreize fördern; sie beruht ganz auf Selbstmotivation.

Welche Distanz - möchte man dazwischen rufen - zwischen diesen, durchaus nicht sympathischen Menschen und den politisch geschickten Managern, die unser Wissenschaftssystem heute fordert.

Ein wichtiger Aspekt ist bis jetzt mehrmals vorgekommen, aber nicht aufgenommen worden: das Umfeld. Es besteht nicht nur aus den Menschen, die das Genie ertragen, ja, ihm die emotionale Entlastung gewähren, die ihm einen Durchbruch erst ermöglichen. Es ist das kulturelle Umfeld, das Spannungen schafft, welche sich in einem kreativen Akt entladen können. Vor allem aber ist es das kulturelle Umfeld, welches darüber bestimmt, was als geniale Leistung anerkannt wird, was nicht; was den kreativen Menschen anspornt, was ihn frustriert.

In dieser Beziehung stellt sich auch die komplexe Frage nach dem Verhältnis zwischen Genie und Wahnsinn, auf die ich hier nicht eingehen kann. Auch damit wird sich ein späterer Vortrag befassen.

Aber das kulturelle Umfeld ist noch viel breiter zu fassen - allerdings ist der Begriff des Umfelds dann nicht mehr zutreffend. Kulturen, und es sind, wie gesagt, die westlich-europäischen Kulturen, schaffen sich Genies (grosse Menschen), in denen sie ihr eigenes Genie (ihren Geist) erkennen können. Dabei werden die egozentrischen, ja asozialen Charakterzüge mythologisch umgeformt, um ein harmonisches Bild, ein Vorbild zu zeichnen.

Shakespeare ist dafür ein Beispiel. Ihm will ich mich jetzt zuwenden. Wir wissen wenig über den Charakter des Menschen Shakespeare, der von 1564-1616 lebte (aber wir wissen ebenso viel von ihm wie von andern bekannten Menschen seiner Zeit). Wie er auch heute noch zum alles erfassenden und gestaltenden Menschen verklärt wird, mag der Eintrag zeigen, der sich in der Encyclopedia Britannica 2001 findet.

... a supreme genius whom it is impossible to characterize briefly. Shakespeare is unequaled as poet and intellect, [… H]is work is comprehensively accommodating; every attitude or ideology finds its resemblance there, yet also finds itself subject to criticism and interrogation. In part, Shakespeare achieved this by the total inclusiveness of his aesthetic, by putting clowns in his tragedies and kings in his comedies, juxtaposing public and private, and mingling the artful with the spontaneous; his plays imitate the counterchange of values occurring at large in his society. The sureness and profound popularity of his taste enabled him to lead the English Renaissance without privileging or prejudicing any one of its divergent aspects, while as actor, dramatist, and shareholder in the Lord Chamberlain's players he was involved in the Elizabethan theatre at every level. (unter "Shakespeare's works")

Aber neuerdings wird auch auf weniger bewundernswerte Charakterzüge hingewiesen, etwa auf seine Tätigkeit als hartherziger Geldverleiher in Stratford (unter anderem in Edward Bonds Stück Bingo). Erst in diesem Jahr ist eine Biographie von Katherine Duncan-Jones erschienen, die auch seine unangenehmen Seiten hervorhebt.

Uns geht es hier aber darum, wie Shakespeare zum Genie wurde, wie als Genie und Vorbild konstruiert wurde. In meiner Skizze greife ich fünf Episoden heraus.

Erste Episode: Für die erste Gesamtausgabe von Shakespeares Dramen, die 1623 erschien, schrieb sein Kollege und Rivale als Dramatiker, Ben Jonson, ein einleitendes Gedicht. In diesem spricht er von seiner hohen Achtung vor Shakespeares Werk, die allerdings, wie er sagt, durchaus "this side idolatry" [diesseits der Vergötterung] bleibe; er vermerkt Shakespeares mangelnde klassische Bildung - er habe "small Latin and less Greek" gekonnt. Dadurch grenzt sich Jonson als Autor, dem antike Kultur und klassische Poetik viel bedeutet, deutlich von seinem Rivalen ab. Anderswo vermerkt er, Shakespeare habe nie eine Zeile gestrichen, und fügt - wohl mit einem Seufzer - bei: "Wären es bloss tausend gewesen." Jonson Sicht trifft wohl nicht ganz zu. Aber damit ist ein Rezeptionsmuster vorgegeben, das die Konstruktion von Shakespeare als Genie fördert: der Autor, dessen Kunst ohne Bildung ist.

Zweite Episode: In der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts herrschte in England wie auf dem Kontinent eine Poetik, die die Inspiration als eine Quelle der Dichtung anerkannte, aber die Befolgung bestimmter, als vernünftig geltender Regeln betonte, Regeln, die man aus antiken Mustern ableiten zu können glaubte. Wie schon Jonson andeutet, kümmert sich Shakespeare um diese Regeln nicht. Er wird deshalb kritisiert, etwa von Alexander Pope im Vorwort zu seiner Ausgabe von 1725.
Seine unbezweifelbare Grösse muss anders erklärt werden. Es geschieht dadurch, dass sie ganz der Inspiration zugeschrieben wird. Wie Pope sagt: "The Poetry of Shakespear was inspiration indeed; he is not so much an Imitator, as an Instrument of Nature." (Nichol Smith 43). Durch ihn, in den Charakteren, die er schafft, oder muss man sagen - schöpft, spricht die Natur, die göttliche Ordnung.

Dritte Episode: In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wird die Anwendung der aufklärerischen Regelpoetik in Zweifel gezogen - aus komplexen Gründen, die ich hier nicht darlegen kann; die Bedeutung der Inspiration wird immer stärker betont. In ganz Europa wird Shakespeare zum Inbegriff des Dichters als inspiriertem Schöpfer - so wie Pope zum Beispiel dies noch halb entschuldigend vorgezeichnet hatte. In Deutschland, wo die Ablösung von einer französisch dominierten Regelpoetik ein nationales Anliegen sein musste, wird Shakespeare in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts zum Inbegriff des Original-Genies, des Genies, das nicht vorgegebene Regeln anwendet, sondern, wenn überhaupt, Regeln schafft, das nicht inspiriert wird, sondern inspiriert ist. Es bildet sich ein Geniekult, in dem Shakespeare besonders verehrt wird. Goethes exaltierte Rede zum Schäkespears Tag (von 1771) mag als ein Beispiel dafür dienen. In ihr wird Shakespeare mit Prometheus verglichen.

Und ich rufe Natur! Natur! Nichts so Natur als Shakespeares Menschen.[…]
Er wetteiferte mit dem Prometheus, bildete ihm Zug vor Zug seine Menschen nach, nur in kolossalischer Grösse; darin liegt's, dass wir unsere Brüder verkennen; und dann belebte er sie alle mit dem Hauch seines Geistes, er redet aus allen, und man erkennt ihre Verwandtschaft.

Vierte Episode: Um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts kommt die Meinung auf, Shakespeare könne seine Werke nicht selbst geschrieben habe. Ein Mensch mit Shakespeares mangelhafter Bildung könne unmöglich die Werke verfasst haben, die unter seinem Namen publiziert wurden. Statt dessen werden seither, neben andern, vor allem zwei Adlige als Autoren postuliert: Sir Francis Bacon - dessen hohe Bildung ausser Frage steht - und Edward de Vere, der Earl of Oxford. Die zweite Theorie hat in den letzten Jahren wieder neue Anhänger gewonnen.
An diesen Autorschaftstheorien interessiert mich allerdings wenig, welche von ihnen zutrifft (ich komme ganz gut mit dem Sohn des Handschuhmachers aus Stratford zurecht). Es ist vielmehr die Frage, weshalb sie zu diesem Zeitpunkt aufkamen und weshalb sie mit so viel Leidenschaft diskutiert werden. Sie belegen das Weiterleben der Vorstellung von Shakespeare als Genie und gleichzeitig die Schwierigkeit, dieses metaphysisch zu begründen. Sie erscheinen in einem Moment, wo göttliche Inspiration als Legitimation ihre Geltung verliert.

Fünfte und letzte Episode: 1999 publiziert der bedeutende amerikanische Kritiker Harold Bloom ein grosses Buch, das zum Bestseller wird, mit dem Titel: Shakespeare: The Invention of the Human. Es feiert einmal mehr Shakespeares als universales Genie, und wirkt darin bereits etwas altväterisch. Aber seine Begründung dafür, weshalb Shakespeare uns so viel bedeute, ist interessant, weil sie ohne metaphysische Instanz auskommt. Ob wir sie akzeptieren mögen, ist eine andere Frage. Er behauptet, Shakespeares Werk habe unsere Kultur so sehr geprägt, dass sein Bild des Menschlichen das unsere geworden sei. Mit andern Worten: Wir definieren uns selbst nach seinen Figuren. Sie sind so menschlich nicht, weil sie sind wie wir, sondern weil wir sind wie sie. Wie Bloom in seinem Vorwort sagt: "Shakespeare will go on explaining us, in part because he invented us". [Shakespeare wird weiterhin unser Wesen erklären, zum Teil weil er es erfunden hat.]
Wenn das so wäre - und der Konjunktiv ist mir wichtig - so würde es bedeuten, dass das Genie und seine Kultur eins geworden geworden sind, bzw. dass sie sich gegenseitig definieren. Es würde auch bedeuten, dass wir in einem Diskurs (im Begriff, den ich oben eingeführt habe) gefangen sind, aus dem wir nicht entfliehen können - was Bloom wohl begrüssen würde. Es würde allerdings auch bedeuten - und hier hätte er Probleme - dass wir Shakespeare als Genie, das aus dem Diskurs auszubrechen vermag, gar nicht mehr erkennen könnten.

In meinem Vortrag habe versucht, einige Aspekte des Themas unserer Reihe zu umreissen. Es ging mir darum, zu zeigen, wie vielfältig die Beziehungen zwischen Genie und Umfeld sind, ja, wie Kulturen sich ihre Genies erst schaffen. Vor allem aber ging es mir darum, dass wir in einer Zeit, die auf das Zählbare versessen ist, auch das Unvorherbestimmbare, das Nicht-Nachvollziehbare, und damit auch das Unberechenbare ernst nehmen.

Wittgenstein hat gesagt: "Worüber man nicht sprechen kann, soll man schweigen" (Tractatus Logico-Philosophicus). Vielleicht. Aber man sollte zumindest sagen, dass man schweigt, worüber man schweigt und weshalb man schweigt.

© Balz.Engler@unibas.ch




 

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