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Ich habe das Vergnügen,
den ersten Vortrag in dieser Reihe über das Genie
halten zu können. Dies bürdet mir allerdings
gleichzeitig die Aufgabe auf, allgemeine, einführende
Dinge zum Thema zu sagen, etwas, was ich nur als Bürde
empfinde, weil es meine Zeit beschränkt, über
jenes Genie - wenn er denn eines ist - zu reden, das mir von
meiner Forschungstätigkeit her am nächsten
steht.
Mein Vortrag hat drei Teile: Ich werde zuerst etwas
darüber sagen, weshalb diese Reihe überhaupt
stattfindet, mich dann dem Begriff des Genies zuwenden und
schliesslich Shakespeare als ein Beispiel kurz
vorstellen.
Weshalb also diese Reihe? Es gibt dafür einen Anlass
und viele guten Gründe. Der Anlass: Am Englischen
Seminar haben sich Forscher zusammengetan, um verschiedene
Aspekte der Shakespeare-Rezeption in Europa zu untersuchen;
wir tun es unter dem Namen "Shakespeare in Europe" oder
"SHinE". Im Herbst organisiert diese Gruppe eine
internationale Konferenz in Basel mit dem Thema "Shakespeare
in European Culture" (ja, in der Einzahl). Daran beteiligen
sich Anglisten aus fünfzehn Ländern.
Aber das Thema ist ja interdisziplinär, und so bot es
sich an, im Vorfeld der Konferenz einen Aspekt des Themas
herauszugreifen und unter Beteiligung von Dozierenden aus
verschiedenen Fächern zu beleuchten. Aber warum der
Aspekt des Genies?
Damit bin ich bei den guten Gründen; und ich will nur
drei nennen: das Genie als ein Phänomen, das den
europäischen Kulturen gemeinsam ist; die
gegenwärtige Situation in der Forschung; und die
Befindlichkeit der Geistes- und Kulturwissenschaften.
(1) Die Bedeutung des Genies als Begriff ist den
westlich-europäischen Kulturen gemeinsam und
unterscheidet sie von andern, in denen das Individuum und
seine schöpferische Leistung weniger hoch veranschlagt
werden. In Europa hat sich, wohl beginnend mit Michelangelo
und Leonardo, eine Vorstellung des Künstlers und der
Künste herausgebildet, die sie vom Handwerk und von der
Dienlichkeit ablösen, und im späten achtzehnten
Jahrhundert im Geniekult ihre Apotheose erfahren. Der
Begriff eignet sich deshalb dazu, die Verschiedenheiten der
Kulturen an einer modernen Gemeinsamkeit - nicht an den
gemeinsamen antiken Wurzeln - zu untersuchen.
(2) Dem Begriff des Genies ist es in letzter Zeit nicht gut
ergangen. Allzu häufig haben sich Genies als Schwindler
erwiesen, vor allem auf einem Gebiet, wo der Begriff als
Klischee noch verwendet wurde: den Finanzen. Das Vertrauen
darein, dass das Unvorherbestimmbare, das
Nicht-Nachvollziehbare, und damit auch das Unberechenbare,
auch etwas Gutes sein könnte, ist geschwunden. Wenn
überhaupt darüber geredet wird, so ist es am
ehesten dort, wo es darum geht, die Voraussetzungen
einzugrenzen, die seine Nutzbarkeit sicherstellen.
In der Forschung hat sich in den letzten zwanzig Jahren
immer mehr die Formulierung von Programmen, ja von
Schwerpunkt-Programmen durchgesetzt. Man legt fest, auf
welchen Gebieten in Zukunft geforscht werden soll - die
Akademien sind im Moment daran, die Forschungsthemen
für den Horizont 2008 zu bestimmen. Diese Programme
binden die Forschenden auf lange Zeit in grosse
Organisationen ein und weisen ihnen ihre Nische zu. Je
genauer die Resultate ihrer Forschung vorausgesagt werden
können, desto grösser sind die Chancen, Geld
für die Realisierung ihres Projekts zu bekommen. Damit
lässt sich das fördern, was Thomas Kuhn "normale
Forschung" genannt hat - deren Wert nicht zu
unterschätzen ist -, das geduldige Absuchen immer
grösserer Gebiete nach vorgegebenen Regeln.
Überraschungen, böse wie schöne, bleiben
einem weitgehend erspart.
Es ist in diesem Zusammenhang erfreulich, dass der neue
Präsident des Schweizerischen Wissenschafts- und
Technologierats, Gottfried Schatz, dazu aufgerufen hat,
nicht Programme, sondern begabte Menschen zu
fördern.
(3) Bedenklich scheint mir allerdings auch eine Entwicklung
auf dem Gebiet der Geistes- und Kulturwissenschaften, eine
Entwicklung, die ich lange mit Interesse und Sympathie
verfolgt habe. Sie macht mir nun Sorge, da sie im Klischee
zum Stillstand gekommen ist. Hier ist es Brauch geworden,
vor allem im Gefolge von Michel Foucault, die Rolle des
einzelnen Menschen für die Gestaltung seiner Umwelt in
Frage zu stellen.
Betont wird dagegen die Rolle von Regeln, Konventionen,
Strukturen, die es uns überhaupt erst möglich
machen, gewisse Dinge zu denken und entsprechend zu handeln.
Diskurs ist der Begriff, der dafür angewendet
wird, Diskurse, die wir nicht schreiben, sondern von denen
wir geschrieben werden.
Der Erfolg dieser Sicht der Dinge beruht sicher darauf, dass
eine andere, die ihr vorausging, so schlimm abgewirtschaftet
hatte - zumindest in unsern Disziplinen; unter
Naturwissenschaftern ist sie noch verbreitet: die Sicht, die
als selbstverständlich voraussetzt, das Individuum in
seiner Autonomie könne stets frei wählen, und eine
objektive Wirklichkeit bestimme allein, was Geltung hat.
Wo die Macht des Diskurses anerkannt wird, kümmert man
sich meist wenig darum, wie er entstanden ist und Geltung
erlangt hat (vgl. etwa den New Historicism). Dies
kann eine Haltung stützen, die man früher als
Schicksalsergebenheit bezeichnet hätte. Es ist eine
Haltung, welche durch die Lebenserfahrung manchen
Wissenschafters in den Geistes- und Kulturwissenschaften
legitimiert scheint. Sie ist geprägt durch das
Gefühl, in immer grössern, undurchsichtigen und
unbeeinflussbaren Strukturen eingespannt zu sein. Man
könne eh nichts machen als ausharren.
Was dabei übersehen wird, ist, dass verschiedene
unvereinbare Diskurse - im kleinen Rahmen etwa jene
verschiedener Disziplinen - nebeneinander existieren,
interagieren und miteinander in Konflikt geraten
können, ja müssen. Wo sie aufeinanderstossen, ist
der Ort, an dem sich Kreativität entfalten kann, an dem
Diskurse, die uns eine andere Sicht auf die Dinge
verstellen, aus den Angeln gehoben werden können -
vielleicht durch Genies.
Damit bin ich bei meinem zweiten Punkt. Was ist ein Genie?
Das Wort wurde im 18. Jahrhundert, wie seine Aussprache noch
zeigt, aus dem Französischen übernommen, und wurde
anfangs auch als Maskulinum verwendet. Das deutet auf seinen
lateinischen Ursprung hin, auf den Geist, der an einem Ort
herrscht ("genius loci"). In einem ähnlichen Sinne -
geradezu der Bedeutung von Diskurs - kommt das Wort
auch beim englischen Dichter und Kritiker John Dryden vor,
wenn er sagt: "Every age has a kind of universal genius,
which inclines those that live in it to some particular
studies." Offenbar unter dem Einfluss von
ingenium nahm das Wort dann seine heutige Bedeutung
(und das neutrale Geschlecht) an. Es konnte herausragende
Gaben oder einen Menschen, der diese aufweist,
bezeichnen.
Im Folgenden konzentriere ich mich auf den Menschen. Dazu
gibt es in der Psychologie, in der
Kreativitätsforschung, eine umfangreiche Literatur;
Hans Lenk gibt einen Überblick über sie, in seinem
Buch Kreative Aufstiege: Zur Philosophie und Psychologie
der Kreativität (Frankfurt: Suhrkamp, 2000).
Bezeichnend ist, dass sich Kreativität umkreisen,
benennen, aber kaum erklären lässt. Ich kann nur
einzelne Punkte herausgreifen. So hat man verschiedene Typen
des Genies unterschieden, etwa nach der Fähigkeit,
Probleme zu lösen oder Neues zu schaffen. So hat man
die Biographien von Menschen untersucht, die gemeinhin als
Genies gelten, um gemeinsame Züge festzustellen. Zu
ihnen gehören so verschiedene Menschen wie Sigmund
Freud, Pablo Picasso, T. S. Eliot, Igor Strawinsky und
Albert Einstein.
Es ist übrigens bezeichnend, dass alle Genannten
Männer sind. Das Genie ist eine
Männerphantasie. Aber darauf wird ein
späterer Vortrag eingehen. Immerhin bitte ich sie, auch
in diesem Zusammenhang auf die beschriebenen
Charakterzüge zu achten, und auf die Metaphorik, die
für die Tätigkeit des Genies verwendet wird.
Die Züge, die diesen Genies gemeinsam sind, fasst Lenk,
nach Howard Gardner, wie folgt zusammen:
Insgesamt sind
Egozentrik, ja Egoismus und Narzissmus - zum Teil
Gleichgültigkeit gegenüber anderen,
Schwierigkeiten mit der Soziabilität und des Umgangs
oder gar [
] ausbeuterische Tendenzen
[
] zu finden. Zudem ist eine Unbefangenheit
oder Kindhaftigkeit im Verbund mit Selbstbezogenheit und
der Meisterschaft in der spezifischen Domäne der
kreativen Tätigkeit charakteristisch
[
]. Darüber hinaus die Randstellung
oder Marginalität, die ein soziales oder
intellektuelles Aussenseitertum [
]
darstellen kann und die insbesondere die Zeitspanne des
Durchbruchs und einer entsprechenden Isolation
charakterisiert.
Ferner stellte Gardner zu
seiner Ueberraschung bei allen seinen Probanden
"Aktivitäten und Verhaltensweisen fundamental
abergläubischer, irrationaler oder zwanghafter Natur"
fest. Schliesslich fällt ihm auf, dass diese kreativen
Menschen kreativ sein wollen, hart und ausdauernd arbeiten
und dauernd produktiv tätig sind; ja, er zeigt, dass
ihnen ein Durchbruch ungefähr alle zehn Jahre
gelingt.
Was die Kreativitätsforschung ebenfalls gezeigt hat,
und was es verdient, hier besonders erwähnt zu werden:
Kreativität lässt sich, im Unterschied zu Fleiss,
nicht durch Belohnung, durch finanzielle Anreize
fördern; sie beruht ganz auf Selbstmotivation.
Welche Distanz - möchte man dazwischen rufen -
zwischen diesen, durchaus nicht sympathischen Menschen und
den politisch geschickten Managern, die unser
Wissenschaftssystem heute fordert.
Ein wichtiger Aspekt ist bis jetzt mehrmals vorgekommen,
aber nicht aufgenommen worden: das Umfeld. Es besteht
nicht nur aus den Menschen, die das Genie ertragen, ja, ihm
die emotionale Entlastung gewähren, die ihm einen
Durchbruch erst ermöglichen. Es ist das kulturelle
Umfeld, das Spannungen schafft, welche sich in einem
kreativen Akt entladen können. Vor allem aber ist es
das kulturelle Umfeld, welches darüber bestimmt, was
als geniale Leistung anerkannt wird, was nicht; was den
kreativen Menschen anspornt, was ihn frustriert.
In dieser Beziehung stellt sich auch die komplexe Frage nach
dem Verhältnis zwischen Genie und Wahnsinn, auf die ich
hier nicht eingehen kann. Auch damit wird sich ein
späterer Vortrag befassen.
Aber das kulturelle Umfeld ist noch viel breiter zu fassen -
allerdings ist der Begriff des Umfelds dann nicht mehr
zutreffend. Kulturen, und es sind, wie gesagt, die
westlich-europäischen Kulturen, schaffen sich Genies
(grosse Menschen), in denen sie ihr eigenes Genie (ihren
Geist) erkennen können. Dabei werden die
egozentrischen, ja asozialen Charakterzüge mythologisch
umgeformt, um ein harmonisches Bild, ein Vorbild zu
zeichnen.
Shakespeare ist dafür
ein Beispiel. Ihm will ich mich jetzt zuwenden. Wir wissen
wenig über den Charakter des Menschen Shakespeare, der
von 1564-1616 lebte (aber wir wissen ebenso viel von ihm wie
von andern bekannten Menschen seiner Zeit). Wie er auch
heute noch zum alles erfassenden und gestaltenden Menschen
verklärt wird, mag der Eintrag zeigen, der sich in der
Encyclopedia Britannica 2001 findet.
... a supreme
genius whom it is impossible to characterize briefly.
Shakespeare is unequaled as poet and intellect,
[
H]is work is comprehensively
accommodating; every attitude or ideology finds its
resemblance there, yet also finds itself subject to
criticism and interrogation. In part, Shakespeare
achieved this by the total inclusiveness of his
aesthetic, by putting clowns in his tragedies and kings
in his comedies, juxtaposing public and private, and
mingling the artful with the spontaneous; his plays
imitate the counterchange of values occurring at large in
his society. The sureness and profound popularity of his
taste enabled him to lead the English Renaissance without
privileging or prejudicing any one of its divergent
aspects, while as actor, dramatist, and shareholder in
the Lord Chamberlain's players he was involved in the
Elizabethan theatre at every level. (unter "Shakespeare's
works")
Aber neuerdings wird auch
auf weniger bewundernswerte Charakterzüge hingewiesen,
etwa auf seine Tätigkeit als hartherziger Geldverleiher
in Stratford (unter anderem in Edward Bonds Stück
Bingo). Erst in diesem Jahr ist eine Biographie von
Katherine Duncan-Jones erschienen, die auch seine
unangenehmen Seiten hervorhebt.
Uns geht es hier aber darum, wie Shakespeare zum Genie
wurde, wie als Genie und Vorbild konstruiert wurde. In
meiner Skizze greife ich fünf Episoden heraus.
Erste Episode: Für die erste Gesamtausgabe von
Shakespeares Dramen, die 1623 erschien, schrieb sein Kollege
und Rivale als Dramatiker, Ben Jonson, ein einleitendes
Gedicht. In diesem spricht er von seiner hohen Achtung vor
Shakespeares Werk, die allerdings, wie er sagt, durchaus
"this side idolatry" [diesseits der
Vergötterung] bleibe; er vermerkt Shakespeares
mangelnde klassische Bildung - er habe "small Latin and less
Greek" gekonnt. Dadurch grenzt sich Jonson als Autor, dem
antike Kultur und klassische Poetik viel bedeutet, deutlich
von seinem Rivalen ab. Anderswo vermerkt er, Shakespeare
habe nie eine Zeile gestrichen, und fügt - wohl mit
einem Seufzer - bei: "Wären es bloss tausend gewesen."
Jonson Sicht trifft wohl nicht ganz zu. Aber damit ist ein
Rezeptionsmuster vorgegeben, das die Konstruktion von
Shakespeare als Genie fördert: der Autor, dessen Kunst
ohne Bildung ist.
Zweite Episode: In der ersten Hälfte des
achtzehnten Jahrhunderts herrschte in England wie auf dem
Kontinent eine Poetik, die die Inspiration als eine Quelle
der Dichtung anerkannte, aber die Befolgung bestimmter, als
vernünftig geltender Regeln betonte, Regeln, die man
aus antiken Mustern ableiten zu können glaubte. Wie
schon Jonson andeutet, kümmert sich Shakespeare um
diese Regeln nicht. Er wird deshalb kritisiert, etwa von
Alexander Pope im Vorwort zu seiner Ausgabe von 1725.
Seine unbezweifelbare Grösse muss anders erklärt
werden. Es geschieht dadurch, dass sie ganz der Inspiration
zugeschrieben wird. Wie Pope sagt: "The Poetry of
Shakespear was inspiration indeed; he is not so much
an Imitator, as an Instrument of Nature." (Nichol Smith 43).
Durch ihn, in den Charakteren, die er schafft, oder muss man
sagen - schöpft, spricht die Natur, die göttliche
Ordnung.
Dritte Episode: In der zweiten Hälfte des 18.
Jahrhunderts wird die Anwendung der aufklärerischen
Regelpoetik in Zweifel gezogen - aus komplexen Gründen,
die ich hier nicht darlegen kann; die Bedeutung der
Inspiration wird immer stärker betont. In ganz Europa
wird Shakespeare zum Inbegriff des Dichters als inspiriertem
Schöpfer - so wie Pope zum Beispiel dies noch halb
entschuldigend vorgezeichnet hatte. In Deutschland, wo die
Ablösung von einer französisch dominierten
Regelpoetik ein nationales Anliegen sein musste, wird
Shakespeare in der zweiten Hälfte des achtzehnten
Jahrhunderts zum Inbegriff des Original-Genies, des Genies,
das nicht vorgegebene Regeln anwendet, sondern, wenn
überhaupt, Regeln schafft, das nicht inspiriert wird,
sondern inspiriert ist. Es bildet sich ein Geniekult, in dem
Shakespeare besonders verehrt wird. Goethes exaltierte
Rede zum Schäkespears Tag (von 1771) mag als ein
Beispiel dafür dienen. In ihr wird Shakespeare mit
Prometheus verglichen.
Und ich rufe Natur!
Natur! Nichts so Natur als Shakespeares
Menschen.[
]
Er wetteiferte mit dem Prometheus, bildete ihm Zug vor
Zug seine Menschen nach, nur in kolossalischer
Grösse; darin liegt's, dass wir unsere
Brüder verkennen; und dann belebte er sie alle mit
dem Hauch seines Geistes, er redet aus allen, und
man erkennt ihre Verwandtschaft.
Vierte Episode: Um
die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts kommt die Meinung
auf, Shakespeare könne seine Werke nicht selbst
geschrieben habe. Ein Mensch mit Shakespeares mangelhafter
Bildung könne unmöglich die Werke verfasst haben,
die unter seinem Namen publiziert wurden. Statt dessen
werden seither, neben andern, vor allem zwei Adlige als
Autoren postuliert: Sir Francis Bacon - dessen hohe Bildung
ausser Frage steht - und Edward de Vere, der Earl of Oxford.
Die zweite Theorie hat in den letzten Jahren wieder neue
Anhänger gewonnen.
An diesen Autorschaftstheorien interessiert mich allerdings
wenig, welche von ihnen zutrifft (ich komme ganz gut mit dem
Sohn des Handschuhmachers aus Stratford zurecht). Es ist
vielmehr die Frage, weshalb sie zu diesem Zeitpunkt aufkamen
und weshalb sie mit so viel Leidenschaft diskutiert werden.
Sie belegen das Weiterleben der Vorstellung von Shakespeare
als Genie und gleichzeitig die Schwierigkeit, dieses
metaphysisch zu begründen. Sie erscheinen in einem
Moment, wo göttliche Inspiration als Legitimation ihre
Geltung verliert.
Fünfte und letzte Episode: 1999 publiziert der
bedeutende amerikanische Kritiker Harold Bloom ein grosses
Buch, das zum Bestseller wird, mit dem Titel:
Shakespeare: The Invention of the Human. Es feiert
einmal mehr Shakespeares als universales Genie, und wirkt
darin bereits etwas altväterisch. Aber seine
Begründung dafür, weshalb Shakespeare uns so viel
bedeute, ist interessant, weil sie ohne metaphysische
Instanz auskommt. Ob wir sie akzeptieren mögen, ist
eine andere Frage. Er behauptet, Shakespeares Werk habe
unsere Kultur so sehr geprägt, dass sein Bild des
Menschlichen das unsere geworden sei. Mit andern Worten: Wir
definieren uns selbst nach seinen Figuren. Sie sind so
menschlich nicht, weil sie sind wie wir, sondern weil wir
sind wie sie. Wie Bloom in seinem Vorwort sagt: "Shakespeare
will go on explaining us, in part because he invented us".
[Shakespeare wird weiterhin unser Wesen erklären,
zum Teil weil er es erfunden hat.]
Wenn das so wäre - und der Konjunktiv ist mir wichtig -
so würde es bedeuten, dass das Genie und seine Kultur
eins geworden geworden sind, bzw. dass sie sich gegenseitig
definieren. Es würde auch bedeuten, dass wir in einem
Diskurs (im Begriff, den ich oben eingeführt
habe) gefangen sind, aus dem wir nicht entfliehen
können - was Bloom wohl begrüssen würde. Es
würde allerdings auch bedeuten - und hier hätte er
Probleme - dass wir Shakespeare als Genie, das aus dem
Diskurs auszubrechen vermag, gar nicht mehr erkennen
könnten.
In meinem Vortrag habe versucht, einige Aspekte des Themas
unserer Reihe zu umreissen. Es ging mir darum, zu zeigen,
wie vielfältig die Beziehungen zwischen Genie und
Umfeld sind, ja, wie Kulturen sich ihre Genies erst
schaffen. Vor allem aber ging es mir darum, dass wir in
einer Zeit, die auf das Zählbare versessen ist, auch
das Unvorherbestimmbare, das Nicht-Nachvollziehbare, und
damit auch das Unberechenbare ernst nehmen.
Wittgenstein hat gesagt: "Worüber man nicht sprechen
kann, soll man schweigen" (Tractatus
Logico-Philosophicus). Vielleicht. Aber man sollte
zumindest sagen, dass man schweigt, worüber man
schweigt und weshalb man schweigt.
© Balz.Engler@unibas.ch
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