... ... Johann
Wolfgang Goethe Rede
zum Schäkespears Tag . (Johann
Wolfgang Goethe, 1771, gedr. 1854) Mir
kommt vor, das sei die edelste von unsern Empfindungen, die
Hoffnung, auch dann zu bleiben, wenn das Schicksal uns zur
allgemeinen Nonexistenz zurückgeführt zu haben
scheint. Dieses Leben, meine Herren, ist für unsre
Seele viel zu kurz, Zeuge, daß jeder Mensch, der
geringste wie der höchste, der unfähigste wie der
würdigste, eher alles müd wird, als zu leben; und
daß keiner sein Ziel erreicht, wornach er so sehnlich
ausging - denn wenn es einem auf seinem Gange auch noch so
lang glückt, fällt er doch endlich, und oft im
Angesicht des gehofften Zwecks, in eine Grube, die ihm, Gott
weiß wer, gegraben hat, und wird für nichts
gerechnet. Für
nichts gerechnet! Ich! Der ich mir alles bin, da ich alles
nur durch mich kenne! So ruft jeder, der sich fühlt,
und macht große Schritte durch dieses Leben, eine
Bereitung für den unendlichen Weg drüben. Freilich
jeder nach seinem Maß. Macht der eine mit dem
stärksten Wandrertrab sich auf, so hat der andre
Siebenmeilenstiefel an, überschreitet ihn, und zwei
Schritte des letzten bezeichnen die Tagreise des ersten. Dem
sei wie ihm wolle, dieser embsige Wandrer bleibt unser
Freund und unser Geselle, wenn wir die gigantischen Schritte
jenes anstaunen und ehren, seinen Fußtapfen folgen,
seine Schritte mit den unsrigen abmessen. Auf
die Reise, meine Herren! die Betrachtung so eines einzigen
Tapfs macht unsre Seele feuriger und größer als
das Angaffen eines tausendfüßigen
königlichen Einzugs. Wir
ehren heute das Andenken des größten Wandrers und
tun uns dadurch selbst eine Ehre an. Von Verdiensten, die
wir zu schätzen wissen, haben wir den Keim in
uns. Erwarten
Sie nicht, daß ich viel und ordentlich schreibe, Ruhe
der Seele ist kein Festtagskleid; und noch zur Zeit habe ich
wenig über Schäkespearen gedacht; geahndet,
empfunden, wenn's hoch kam, ist das Höchste, wohin
ich's habe bringen können. Die erste Seite, die ich in
ihm las, machte mich auf zeitlebens ihm eigen, und wie ich
mit dem ersten Stücke fertig war, stund ich wie ein
Blindgeborner, dem eine Wunderhand das Gesicht in einem
Augenblicke schenkt. Ich erkannte, ich fühlte aufs
lebhafteste meine Existenz um eine Unendlichkeit erweitert,
alles war mir neu, unbekannt, und das ungewohnte Licht
machte mir Augenschmerzen. Nach und nach lernt ich sehen,
und, dank sei meinem erkenntlichen Genius, ich fühle
noch immer lebhaft, was ich gewonnen habe. Ich
zweifelte keinen Augenblick, dem regelmäßigen
Theater zu entsagen. Es schien mir die Einheit des Orts so
kerkermäßig ängstlich, die Einheiten der
Handlung und der Zeit lästige Fesseln unsrer
Einbildungskraft. Ich sprang in die freie Luft und
fühlte erst, daß ich Hände und
Füße hatte. Und jetzo, da ich sahe, wieviel
Unrecht mir die Herrn der Regeln in ihrem Loch angetan
haben, wieviel freie Seelen noch drinne sich krümmen,
so wäre mir mein Herz geborsten, wenn ich ihnen nicht
Fehde angekündigt hätte und nicht täglich
suchte ihre Türne zusammenzuschlagen. Das
griechische Theater, das die Franzosen zum Muster nahmen,
war, nach innrer und äußerer Beschaffenheit, so,
daß eher ein Marquis den Alkibiades nachahmen
könnte, als es Corneillen dem Sophokles zu folgen
möglich wär. Erst
Intermezzo des Gottesdiensts, dann feierlich politisch,
zeigte das Trauerspiel einzelne große Handlungen der
Väter dem Volk, mit der reinen Einfalt der
Vollkommenheit, erregte ganze große Empfindungen in
den Seelen, denn es war selbst ganz, und
groß. Und
in was für Seelen! Griechischen!
Ich kann mich nicht erklären, was das heißt, aber
ich fühl's, und berufe mich der Kürze halben auf
Homer und Sophokles und Theokrit, die haben's mich
fühlen gelehrt. Nun
sag ich geschwind hintendrein: Französchen, was willst
du mit der griechischen Rüstung, sie ist dir zu
groß und zu schwer. Drum
sind alle französche Trauerspiele Parodien von sich
selbst. Wie
das so regelmäßig zugeht, und daß sie
einander ähnlich sind wie Schuhe, und auch langweilig
mitunter, besonders in genere im vierten Akt, das wissen die
Herren leider aus der Erfahrung, und ich sage nichts
davon. Wer
eigentlich zuerst drauf gekommen ist, die Haupt- und
Staatsaktionen aufs Theater zu bringen, weiß ich
nicht, es gibt Gelegenheit für den Liebhaber zu einer
kritischen Abhandlung. Ob Schäkespearen die Ehre der
Erfindung gehört, zweifl ich; genung, er brachte diese
Art auf den Grad, der noch immer der höchste geschienen
hat, da so wenig Augen hinaufreichen und also schwer zu
hoffen ist, einer könne ihn übersehen oder gar
übersteigen. Schäkespear, mein Freund, wenn du
noch unter uns wärest, ich könnte nirgend leben
als mit dir, wie gern wollt ich die Nebenrolle eines Pylades
spielen, wenn du Orest wärst, lieber als die
geehrwürdigte Person eines Oberpriesters im Tempel zu
Delphos. Ich
will abbrechen, meine Herren, und morgen weiterschreiben,
denn ich bin in einem Ton, der Ihnen vielleicht nicht so
erbaulich ist, als er mir von Herzen geht. Schäkespears
Theater ist ein schöner Raritätenkasten, in dem
die Geschichte der Welt vor unsern Augen an dem unsichtbaren
Faden der Zeit vorbeiwallt. Seine Plane sind, nach dem
gemeinen Stil zu reden, keine Plane, aber seine Stücke
drehen sich um den geheimen Punkt (den noch kein Philosoph
gesehen und bestimmt hat), in dem das Eigentümliche
unsres Ichs, die prätendierte Freiheit unsres Wollens,
mit dem notwendigen Gang des Ganzen
zusammenstößt. Unser verdorbener Geschmack aber
umnebelt dergestalt unsere Augen, daß wir fast eine
neue Schöpfung nötig haben, uns aus dieser
Finsternis zu entwickeln. Alle
Franzosen und angesteckte Deutsche, sogar Wieland, haben
sich bei dieser Gelegenheit, wie bei mehreren, wenig Ehre
gemacht. Voltaire, der von jeher Profession machte, alle
Majestäten zu lästern, hat sich auch hier als ein
echter Thersit bewiesen. Wäre ich Ulysses; er sollte
seinen Rücken unter meinem Zepter verzerren. Die
meisten von diesen Herren stoßen auch besonders an
seinen Charakteren an. Und
ich rufe Natur! Natur! nichts so Natur als Schäkespears
Menschen! Da
hab ich sie alle überm Hals. Laßt
mir Luft, daß ich reden kann! Er
wetteiferte mit dem Prometheus, bildete ihm Zug vor Zug
seine Menschen nach, nur in kolossalischer Größe;
darin liegt's, daß wir unsre Brüder verkennen;
und dann belebte er sie alle mit dem Hauch seines Geistes,
er redet aus allen, und man erkennt ihre
Verwandtschaft. Und
was will sich unser Jahrhundert unterstehen, von Natur zu
urteilen. Wo sollten wir sie her kennen, die wir von Jugend
auf alles geschnürt und geziert an uns fühlen und
an andern sehen. Ich schäme mich oft vor Schakespearen,
denn es kommt manchmal vor, daß ich beim ersten Blick
denke, das hätt ich anders gemacht! Hintendrein erkenn
ich, daß ich ein armer Sünder bin, daß aus
Schakespearen die Natur weissagt und daß meine
Menschen Seifenblassen sind, von Romanengrillen
aufgetrieben. Und
nun zum Schluß, ob ich gleich noch nicht angefangen
habe. Das,
was edle Philosophen von der Welt gesagt haben, gilt auch
von Schakespearen, das, was wir bös nennen, ist nur die
andre Seite vom Guten, die so notwendig zu seiner Existenz
und das Ganze gehört, als Zona torrida brennen und
Lappland einfrieren muß, daß es einen
gemäßigten Himmelsstrich gebe. Er
führt uns durch die ganze Welt, aber wir
verzärtelte unerfahrne Menschen schreien bei jeder
fremden Heuschrecke, die uns begegnet: Herr, er will uns
fressen. Auf,
meine Herren! trompeten Sie mir alle edle Seelen aus dem
Elysium des sogenannten guten Geschmacks, wo sie
schlaftrunken, in langweiliger Dämmerung halb sind,
halb nicht sind, Leidenschaften im Herzen und kein Mark in
den Knochen haben; und weil sie nicht müde genug, zu
ruhen, und doch zu faul sind, um tätig zu sein, ihr
Schattenleben zwischen Myrten und Lorbeergebüschen
verschlendern und vergähnen. ... Goethe: Shakespeare
und kein Ende ... December
2002
Zum
Schäkespears Tag
siehe auch:
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Shakespeare
in Europe
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