... ... Johann
Wolfgang von Goethe Shakespeare
und kein Ende! .. Es
ist über Shakespeare schon so viel gesagt, dass es
scheinen möchte, als wäre nichts mehr zu sagen
übrig, und doch ist das die Eigenschaft des Geistes,
dass er den Geist ewig anregt. Diesmal will ich Shakespeare
von mehr als einer Seite betrachten, und zwar erstlich als
Dichter überhaupt, sodann verglichen mit den Alten und
den Neusten, und zuletzt als eigentlichen Theaterdichter.
Ich werde zu entwickeln suchen, was die Nachahmung seiner
Art auf uns gewirkt, und was sie überhaupt wirken kann.
Ich werde meine Beistimmung zu dem, was schon gesagt ist,
dadurch geben, dass ich es allenfalls wiederhole, meine
Abstimmung aber kurz und positiv ausdrücken, ohne mich
in Streit und Widerspruch zu verwickeln. Hier sei also von
jenem ersten Punct zuvörderst die Rede. I.
Shakespeare als Dichter überhaupt. Das
Höchste, wozu der Mensch gelangen kann, ist das
Bewusstsein eigner Gesinnungen und Gedanken, das Erkennen
seiner selbst, welches ihm die Einleitung gibt, auch fremde
Gemütsarten innig zu erkennen. Nun gibt es Menschen,
die mit einer natürlichen Anlage hiezu geboren sind und
solche durch Erfahrung zu praktischen Zwecken ausbilden.
Hieraus entsteht die Fähigkeit, der Welt und den
Geschäften im höheren Sinn etwas abzugewinnen. Mit
jener Anlage nun wird auch der Dichter geboren, nur dass er
sie nicht zu unmittelbaren, irdischen Zwecken, sondern zu
einem höhern, geistigen, allgemeinen Zweck ausbildet.
Nennen wir nun Shakespeare einen der größten
Dichter, so gestehen wir zugleich, dass nicht leicht jemand
die Welt so gewahrte wie er, dass nicht leicht jemand, der
sein inneres Anschauen aussprach, den Leser in höherm
Grade mit in das Bewusstsein der Welt versetzt. Sie wird
für uns völlig durchsichtig; wir finden uns auf
einmal als Vertraute der Tugend und des Lasters, der
Größe, der Kleinheit, des Adels, der
Verworfenheit, und dieses alles, ja noch mehr durch die
einfachsten Mittel. Fragen wir aber nach diesen Mitteln, so
scheint es, als arbeite er für unsre Augen; aber wir
sind getäuscht. Shakespeares Werke sind nicht für
die Augen des Leibes. Ich will mich zu erklären
suchen. Das
Auge mag wohl der klarste Sinn genannt werden, durch den die
leichteste Überlieferung möglich ist. Aber der
innere Sinn ist noch klarer, und zu ihm gelangt die
höchste und schnellste Überlieferung durchs Wort:
denn dieses ist eigentlich fruchtbringend, wenn das, was wir
durchs Auge auffassen, an undfür sich fremd und
keineswegs so tiefwirkend vor uns steht. Shakespeare nun
spricht durchaus an unsern innern Sinn; durch diesen belebt
sich zugleich die Bilderwelt der Einbildungskraft, und so
entspringt eine vollständige Wirkung, von der wir uns
keine Rechenschaft zu geben wissen; denn hier liegt eben der
Grund von jener Täuschung, als begebe sich alles vor
unsern Augen. Betrachtet man aber die Shakespeareschen
Stücke genau, so enthalten sie viel weniger sinnliche
Tat als geistiges Wort. Er lässt geschehen, was sich
leicht imaginieren lässt, ja was besser imaginiert als
gesehen wird. Hamlets Geist, Macbeths Hexen,
manche Grausamkeiten erhalten ihren Wert erst durch die
Einbildungskraft, und die vielfältigen kleinen
Zwischenscenen sind bloß auf sie berechnet. Alle
solche Dinge gehen beim Lesen leicht und gehörig an uns
vorbei, da sie bei der Vorstellung lasten und störend,
ja widerlich erscheinen. Durchs
lebendige Wort wirkt Shakespeare, und dies lässt sich
beim Vorlesen am besten überliefern; der Hörer
wird nicht zerstreut, weder durch schickliche noch
unschickliche Darstellung. Es gibt keinen höhern Genuss
und keinen reinern, als sich mit geschlossnen Augen durch
eine natürlich richtige Stimme ein Shakespearesches
Stück nicht declamieren, sondern recitieren zu lassen.
Man folgt dem schlichten Faden, an dem er die Ereignisse
abspinnt. Nach der Bezeichnung der Charaktere bilden wir uns
zwar gewisse Gestalten, aber eigentlich sollen wir durch
eine Folge von Worten und Reden erfahren, was im Innern
vorgeht, und hier scheinen alle Mitspielenden sich
verabredet zu haben, uns über nichts im Dunkeln, im
Zweifel zu lassen. Dazu conspirieren Helden und
Kriegsknechte, Herren und Sklaven, Könige und Boten, ja
die untergeordneten Figuren wirken hier oft tätiger als
die Hauptgestalten. Alles, was bei einer großen
Weltbegebenheit heimlich durch die Lüfte säuselt,
was in Momenten ungeheurer Ereignisse sich in dem Herzen der
Menschen verbirgt, wird ausgesprochen; was ein Gemüt
ängstlich verschließt und versteckt, wird hier
frei und flüssig an den Tag gefördert; wir
erfahren die Wahrheit des Lebens und wissen nicht
wie. Shakespeare
gesellt sich zum Weltgeist; er durchdringt die Welt wie
jener; beiden ist nichts verborgen; aber wenn des Weltgeists
Geschäft ist, Geheimnisse vor, ja oft nach der Tat zu
bewahren, so ist es der Sinn des Dichters, das Geheimnis zu
verschwätzen und uns vor, oder doch gewiss in der Tat
zu Vertrauten zu machen. Der lasterhafte Mächtige, der
wohldenkende Beschränkte, der leidenschaftlich
Hingerissene, der ruhig Betrachtende, alle tragen ihr Herz
in der Hand, oft gegen alle Wahrscheinlichkeit; jedermann
ist redsam und redselig. Genug, das Geheimnis muss heraus,
und sollten es die Steine verkünden. Selbst das
Unbelebte drängt sich hinzu, alles Untergeordnete
spricht mit, die Elemente, Himmel-, Erd- und
Meerphänomene, Donner und Blitz, wilde Tiere erheben
ihre Stimme, oft scheinbar als Gleichnis, aber ein- wie das
andre Mal mithandelnd. Aber
auch die civilisierte Welt muss ihre Schätze hergeben;
Künste und Wissenschaften, Handwerke und Gewerbe, alles
reicht seine Gaben dar. Shakespeares Dichtungen sind ein
großer belebter Jahrmarkt, und diesen Reichtum hat er
seinem Vaterlande zu danken. Überall
ist England, das meerumflossene, von Nebel und Wolken
umzogene, nach allen Weltgegenden tätige. Der Dichter
lebt zur würdigen und wichtigen Zeit und stellt ihre
Bildung, ja Verbildung mit großer Heiterkeit uns dar,
ja er würde nicht so sehr auf uns wirken, wenn er sich
nicht seiner lebendigen Zeit gleich gestellt hätte.
Niemand hat das materielle Costüm mehr verachtet als
er; er kennt recht gut das innere Menschencostüm, und
hier gleichen sich alle. Man sagt, er habe die Römer
vortrefflich dargestellt; ich finde es nicht; es sind lauter
eingefleischte Engländer, aber freilich Menschen sind
es, Menschen von Grund aus, und denen passt wohl auch die
römische Toga. Hat man sich einmal hierauf
eingerichtet, so findet man seine Anachronismen höchst
lobenswürdig, und gerade dass er gegen das
äußere Costüm verstößt, das ist
es, was seine Werke so lebendig macht. Und
so sei es genug an diesen wenigen Worten, wodurch
Shakespeares Verdienst keineswegs erschöpft ist. Seine
Freunde und Verehrer werden noch manches hinzuzusetzen
haben. Doch stehe noch eine Bemerkung hier: schwerlich wird
man einen Dichter finden, dessen einzelnen Werken jedesmal
ein andrer Begriff zu Grunde liegt und im Ganzen wirksam
ist, wie an den seinigen sich nachweisen
lässt. So
geht durch den ganzen Coriolan der Ärger durch,
dass die Volksmasse den Vorzug der Bessern nicht anerkennen
will. Im Cäsar bezieht sich alles auf den
Begriff, dass die Bessern den obersten Platz nicht wollen
eingenommen sehen, weil sie irrig wähnen, in Gesamtheit
wirken zu können. Antonius und Kleopatra spricht
mit tausend Zungen, dass Genuss und Tat unverträglich
sei. Und so würde man bei weiterer Untersuchung ihn
noch öfter zu bewundern haben. II.
Shakespeare, verglichen mit den Alten und
Neusten. Das
Interesse, welches Shakespeares großen Geist belebt,
liegt innerhalb der Welt: denn wenn auch Wahrsagung und
Wahnsinn, Träume, Ahnungen, Wunderzeichen, Feen und
Gnomen, Gespenster, Unholde und Zauberer ein magisches
Element bilden, das zur rechten Zeit seine Dichtungen
durchschwebt, so sind doch jene Truggestalten keineswegs
Hauptingredienzien seiner Werke, sondern die Wahrheit und
Tüchtigkeit seines Lebens ist die große Base,
worauf sie ruhen; deshalb uns alles was sich von ihm
herschreibt, so echt und kernhaft erscheint. Man hat daher
schon eingesehen, dass er nicht sowohl zu den Dichtern der
neuern Welt, welche man die romantischen genannt hat,
sondern vielmehr zu jenen der naiven Gattung gehöre, da
sein Wert eigentlich auf der Gegenwart ruht, und er kaum von
der zartesten Seite, ja nur mit der äußersten
Spitze an die Sehnsucht gränzt. Des
ungeachtet aber ist er, näher betrachtet, ein
entschieden moderner Dichter, von den Alten durch eine
ungeheure Kluft getrennt, nicht etwa der äußern
Form nach, welche hier ganz zu beseitigen ist, sondern dem
innersten tiefsten Sinne nach. Zuvörderst
aber verwahre ich mich und sage: dass keineswegs meine
Absicht sei, nachfolgende Terminologie als erschöpfend
und abschließend zu gebrauchen; vielmehr soll es nur
ein Versuch sein, zu andern, uns schon bekannten
Gegensätzen nicht sowohl einen neuen hinzuzufügen,
als, dass er schon in jenen enthalten sei, anzudeuten. Diese
Gegensätze sind: Antik,
Modern. Naiv,
Sentimental. Heidnisch,
Christlich. Heldenhaft,
Romantisch. Real,
Ideal. Notwendigkeit,
Freiheit. Sollen,
Wollen. Die
größten Qualen so wie die meisten, welchen der
Mensch ausgesetzt sein kann, entspringen aus den einem jeden
inwohnenden Missverhältnissen zwischen Sollen und
Wollen, sodann aber zwischen Sollen und Vollbringen, Wollen
und Vollbringen, und diese sind es, die ihn auf seinem
Lebensgange so oft in Verlegenheit setzen. Die geringste
Verlegenheit, die aus einem leichten Irrtum, der unerwartet
und schadlos gelöst werden kann, entspringt, gibt die
Anlage zu lächerlichen Situationen. Die höchste
Verlegenheit hingegen, unauflöslich oder
unaufgelöst, bringt uns die tragischen Momente
dar. Vorherrschend
in den alten Dichtungen ist das Unverhältnis zwischen
Sollen und Vollbringen, in den neuern zwischen Wollen und
Vollbringen. Man nehme diesen durchgreifenden Unterschied
unter die übrigen Gegensätze einstweilen auf und
versuche, ob sich damit etwas leisten lasse. Vorherrschend,
sagte ich, sind in beiden Epochen bald diese, bald jene
Seite; weil aber Sollen und Wollen im Menschen nicht radical
getrennt werden kann, so müssen überall beide
Ansichten zugleich, wenn schon die eine vorwaltend und die
andre untergeordnet, gefunden werden. Das Sollen wird dem
Menschen auferlegt, das Muss ist eine harte Nuss; das Wollen
legt der Mensch sich selbst auf, des Menschen Wille ist sein
Himmelreich. Ein beharrendes Sollen ist lästig,
Unvermögen des Vollbringens fürchterlich, ein
beharrliches Wollen erfreulich, und bei einem festen Willen
kann man sich sogar über das Unvermögen des
Vollbringens getröstet sehen. Betrachte man als eine
Art Dichtung die Kartenspiele; auch diese bestehen aus jenen
beiden Elementen. Die Form des Spiels, verbunden mit dem
Zufalle, vertritt hier die Stelle des Sollens, gerade wie es
die Alten unter der Form des Schicksals kannten; das Wollen,
verbunden mit der Fähigkeit des Spielers, wirkt ihm
entgegen. In diesem Sinn möchte ich das Whistspiel
antik nennen. Die Form dieses Spiels beschränkt den
Zufall, ja das Wollen selbst. Ich muss bei gegebenen Mit-
und Gegenspielern mit den Karten, die mir in die Hand
kommen, eine lange Reihe von Zufällen lenken, ohne
ihnen ausweichen zu können; beim Lombre und
ähnlichen Spielen findet das Gegenteil statt. Hier sind
meinem Wollen und Wagen gar viele Türen gelassen; ich
kann die Karten, die mir zufallen, verleugnen, in
verschiedenem Sinne gelten lassen, halb oder ganz verwerfen,
vom Glück Hülfe rufen, ja durch ein umgekehrtes
Verfahren aus den schlechtesten Blättern den
größten Vorteil ziehen, und so gleichen diese Art
Spiele vollkommen der modernen Denk- und
Dichtart. Die
alte Tragödie beruht auf einem unausweichlichen Sollen,
das durch ein entgegenwirkendes Wollen nur geschärft
und beschleunigt wird. Hier ist der Sitz alles Furchtbaren
der Orakel, die Region, in welcher Ödipus
über alle thront. Zarter erscheint uns das Sollen als
Pflicht in der Antigone, und in wie viele Formen verwandelt
tritt es nicht auf. Aber alles Sollen ist despotisch. Es
gehöre der Vernunft an: wie das Sitten- und
Stadtgesetz, oder der Natur: wie die Gesetze des Werdens,
Wachsens und Vergehens, des Lebens und Todes. Vor allem
diesem schaudern wir, ohne zu bedenken, dass das Wohl des
Ganzen dadurch bezielt sei. Das Wollen hingegen ist frei,
scheint frei und begünstigt den Einzelnen. Daher ist
das Wollen schmeichlerisch und musste sich der Menschen
bemächtigen, sobald sie es kennen lernten. Es ist der
Gott der neuern Zeit; ihm hingegeben, fürchten wir uns
vor dem Entgegengesetzten, und hier liegt der Grund, warum
unsre Kunst so wie unsre Sinnesart von der antiken ewig
getrennt bleibt. Durch das Sollen wird die Tragödie
groß und stark, durch das Wollen schwach und klein.
Auf dem letzten Wege ist das sogenannte Drama entstanden,
indem man das ungeheure Sollen durch ein Wollen
auflöste; aber eben weil dieses unsrer Schwachheit zu
Hülfe kommt, so fühlen wir uns gerührt, wenn
wir nach peinlicher Erwartung zuletzt noch kümmerlich
getröstet werden. Wende
ich mich nun nach diesen Vorbetrachtungen zu Shakespeare, so
muss der Wunsch entspringen, dass meine Leser selbst
Vergleichung und Anwendung übernehmen möchten.
Hier tritt Shakespeare einzig hervor, indem er das Alte und
Neue auf eine überschwängliche Weise verbindet.
Wollen und Sollen suchen sich durchaus in seinen
Stücken ins Gleichgewicht zu setzen; beide
bekämpfen sich mit Gewalt, doch immer so, dass das
Wollen im Nachteile bleibt. Niemand
hat vielleicht herrlicher als er die erste große
Verknüpfung des Wollens und Sollens im individuellen
Charakter dargestellt. Die Person, von der Seite des
Charakters betrachtet, soll: sie ist beschränkt, zu
einem Besondern bestimmt; als Mensch aber will sie. Sie ist
unbegränzt und fordert das Allgemeine. Hier entspringt
schon ein innerer Conflict, und diesen lässt
Shakespeare vor allen andern hervortreten. Nun aber kommt
ein äußerer hinzu, und der erhitzt sich
öfters dadurch, dass ein unzulängliches Wollen
durch Veranlassungen zum unerlässlichen Sollen
erhöht wird. Diese Maxime habe ich früher an
Hamlet nachgewiesen; sie wiederholt sich aber bei
Shakespeare; denn wie Hamlet durch den Geist, so kommt
Macbeth durch Hexen, Hekate und die Überhexe, sein
Weib, Brutus durch die Freunde in eine Klemme, der sie nicht
gewachsen sind; ja sogar im Coriolan lässt sich das
Ähnliche finden; genug, ein Wollen, das über die
Kräfte eines Individuums hinausgeht, ist modern. dass
es aber Shakespeare nicht von innen entspringen, sondern
durch äußere Veranlassung aufregen lässt,
dadurch wird es zu einer Art von Sollen und nähert sich
dem Antiken. Denn alle Helden des dichterischen Altertums
wollen nur das, was Menschen möglich ist, und daher
entspringt das schöne Gleichgewicht zwischen Wollen,
Sollen und Vollbringen; doch steht ihr Sollen immer zu
schroff da, als dass es uns, wenn wir es auch bewundern,
anmuten könnte. Eine Notwendigkeit, die mehr oder
weniger oder völlig alle Freiheit ausschließt,
verträgt sich nicht mehr mit unsern Gesinnungen; diesen
hat jedoch Shakespeare auf seinem Wege sich genähert:
denn indem er das Notwendige sittlich macht, so
verknüpft er die alte und neue Welt zu unserm freudigen
Erstaunen. Ließe sich etwas von ihm lernen, so
wäre hier der Punct, den wir in seiner Schule studieren
müssten. Anstatt unsre Romantik, die nicht zu schelten
noch zu verwerfen sein mag, über die Gebühr
ausschließlich zu erheben und ihr einseitig
nachzuhängen, wodurch ihre starke, derbe, tüchtige
Seite verkannt und verderbt wird, sollten wir suchen, jenen
großen, unvereinbar scheinenden Gegensatz um so mehr
in uns zu vereinigen, als ein großer und einziger
Meister, den wir so höchlich schätzen und oft,
ohne zu wissen warum, über alles präconisieren,
das Wunder wirklich schon geleistet hat. Freilich hatte er
den Vorteil, dass er zur rechten Erntezeit kam, dass er in
einem lebensreichen protestantischen Lande wirken durfte, wo
der bigotte Wahn eine Zeitlang schwieg, so dass einem wahren
Naturfrommen wie Shakespeare die Freiheit blieb, sein reines
Innere, ohne Bezug auf irgend eine bestimmte Religion,
religios zu entwickeln. ------------------------------ Vorstehendes
ward im Sommer 1813 geschrieben, und man will daran nicht
markten noch mäkeln, sondern nur an das oben Gesagte
erinnern: dass Gegenwärtiges gleichfalls ein einzelner
Versuch sei, um zu zeigen, wie die verschiedenen poetischen
Geister jenen ungeheuern und unter so viel Gestalten
hervortretenden Gegensatz auf ihre Weise zu vereinigen und
aufzulösen gesucht. Mehreres zu sagen wäre um so
überflüssiger, als man seit gedachter Zeit auf
diese Frage von allen Seiten aufmerksam gemacht worden, und
wir darüber vortreffliche Erklärungen erhalten
haben. Vor allen gedenke ich Blümners höchst
schätzbare Abhandlung über die Idee des Schicksals
in den Tragödien des Äschylus und deren
vortreffliche Recension in den Ergänzungsblättern
der Jenaischen Literaturzeitung. Worauf ich mich denn ohne
weiteres zu dem dritten Punct wende, welcher sich
unmittelbar auf das deutsche Theater bezieht und auf jenen
Vorsatz, welchen Schiller gefasst, dasselbe auch für
die Zukunft zu begründen. III.
Shakespeare als Theaterdichter. Wenn
Kunstliebhaber und -freunde irgend ein Werk freudig
genießen wollen, so ergötzen sie sich am Ganzen
und durchdringen sich von der Einheit, die ihm der
Künstler geben können. Wer hingegen theoretisch
über solche Arbeiten sprechen, etwas von ihnen
behaupten und also lehren und belehren will, dem wird
Sondern zur Pflicht. Diese glaubten wir zu erfüllen,
indem wir Shakespeare erst als Dichter überhaupt
betrachteten und sodann mit den Alten und den Neusten
verglichen. Nun aber gedenken wir unsern Vorsatz dadurch
abzuschließen, dass wir ihn als Theaterdichter
betrachten. Shakespeares
Name und Verdienst gehören in die Geschichte der
Poesie; aber es ist eine Ungerechtigkeit gegen alle
Theaterdichter früherer und späterer Zeiten, sein
ganzes Verdienst in der Geschichte des Theaters
aufzuführen. Ein
allgemein anerkanntes Talent kann von seinen
Fähigkeiten einen Gebrauch machen, der problematisch
ist. Nicht alles was der Vortreffliche tut, geschieht auf
die vortrefflichste Weise. So gehört Shakespeare
notwendig in die Geschichte der Poesie; in der Geschichte
des Theaters tritt er nur zufällig auf. Weil man ihn
dort unbedingt verehren kann, so muss man hier die
Bedingungen erwägen, in die er sich fügte, und
diese Bedingungen nicht als Tugenden oder als Muster
anpreisen. Wir
unterscheiden nahverwandte Dichtungsarten, die aber bei
lebendiger Behandlung oft zusammenfließen: Epos,
Dialog, Drama, Theaterstück lassen sich sondern. Epos
fordert mündliche Überlieferungen an die Menge
durch einen Einzelnen; Dialog Gespräch in geschlossener
Gesellschaft, wo die Menge allenfalls zuhören mag;
Drama Gespräch in Handlungen, wenn es auch nur vor der
Einbildungskraft geführt würde; Theaterstück
alles dreies zusammen, in so fern es den Sinn des Auges mit
beschäftigt und unter gewissen Bedingungen
örtlicher und persönlicher Gegenwart fasslich
werden kann. Shakespeares
Werke sind in diesem Sinne am meisten dramatisch; durch
seine Behandlungsart, das innerste Leben hervorzukehren,
gewinnt er den Leser; die theatralischen Forderungen
erscheinen ihm nichtig, und so macht er sich's bequem und
man lässt sich's, geistig genommen, mit ihm bequem
werden. Wir springen mit ihm von Localität zu
Localität, unsere Einbildungskraft ersetzt alle
Zwischenhandlungen, die er auslässt, ja wir wissen ihm
Dank, dass er unsere Geisteskräfte auf eine so
würdige Weise anregt. Dadurch dass er alles unter der
Theaterform vorbringt, erleichtert er der Einbildungskraft
die Operation; denn mit den "Brettern die die Welt bedeuten"
sind wir bekannter als mit der Welt selbst, und wir
mögen das Wunderlichste lesen und hören, so meinen
wir, das könne auch da droben einmal vor unsern Augen
vorgehen; daher die so oft misslungene Bearbeitung von
beliebten Romanen in Schauspielen. Genau
aber genommen, so ist nichts theatralisch, als was für
die Augen zugleich symbolisch ist: eine wichtige Handlung,
die auf eine noch wichtigere deutet. dass Shakespeare auch
diesen Gipfel zu erfassen gewusst, bezeugt jener Augenblick,
wo dem todkranken schlummernden König der Sohn und
Nachfolger die Krone von seiner Seite wegnimmt, sie aufsetzt
und damit fortstolziert. Dieses sind aber nur Momente,
ausgesäte Juwelen, die durch viel Untheatralisches aus
einander gehalten werden. Shakespeares ganze Verfahrungsart
findet an der eigentlichen Bühne etwas Widerstrebendes;
sein großes Talent ist das eines Epitomators, und da
der Dichter überhaupt als Epitomator der Natur
erscheint, so müssen wir auch hier Shakespeares
großes Verdienst anerkennen, nur leugnen wir dabei und
zwar zu seinen Ehren, dass die Bühne ein würdiger
Raum für sein Genie gewesen. Indessen veranlasst ihn
gerade diese Bühnenenge zu eigner Begränzung. Hier
aber nicht, wie andere Dichter, wählt er sich zu
einzelnen Arbeiten besondere Stoffe, sondern er legt einen
Begriff in den Mittelpunct und bezieht auf diesen die Welt
und das Universum. Wie er alte und neue Geschichte in die
Enge zieht, kann er den Stoff von jeder Chronik brauchen, an
die er sich oft sogar wörtlich hält. Nicht so
gewissenhaft verfährt er mit den Novellen, wie uns
Hamlet bezeugt. Romeo und Julie bleibt der
Überlieferung getreuer, doch zerstört er den
tragischen Gehalt derselben beinahe ganz durch die zwei
komischen Figuren Mercutio und die Amme, wahrscheinlich von
zwei beliebten Schauspielern, die Amme wohl auch von einer
Mannsperson gespielt. Betrachtet man die Ökonomie des
Stücks recht genau, so bemerkt man, dass diese beiden
Figuren und was an sie gränzt, nur als possenhafte
Intermezzisten auftreten, die uns bei unserer folgerechten,
Übereinstimmung liebenden Denkart auf der Bühne
unerträglich sein müssen. Am
merkwürdigsten erscheint jedoch Shakespeare, wenn er
schon vorhandene Stücke redigiert und
zusammenschneidet. Bei König Johann und
Lear können wir diese Vergleichung anstellen,
denn die ältern Stücke sind noch übrig. Aber
auch in diesen Fällen ist er wieder mehr Dichter
überhaupt als Theaterdichter. Lasset
uns denn aber zum Schluss zur Auflösung des
Rätsels schreiten. Die Unvollkommenheit der englischen
Bretterbühne ist uns durch kenntnisreiche Männer
vor Augen gestellt. Es ist keine Spur von der
Natürlichkeitsforderung, in die wir nach und nach durch
Verbesserung der Maschinerie und der perspectivischen Kunst
und der Garderobe hineingewachsen sind, und von wo man uns
wohl schwerlich in jene Kindheit der Anfänge wieder
zurückführen dürfte: vor ein Gerüste, wo
man wenig sah, wo alles nur bedeutete, wo sich das Publicum
gefallen ließ, hinter einem grünen Vorhang das
Zimmer des Königs anzunehmen, den Trompeter der an
einer gewissen Stelle immer trompetete, und was dergleichen
mehr ist. Wer will sich nun gegenwärtig so etwas
zumuten lassen? Unter solchen Umständen waren
Shakespeares Stücke höchst interessante
Mährchen, nur von mehreren Personen erzählt, die
sich, um etwas mehr Eindruck zu machen, charakteristisch
maskiert hatten, sich, wie es Not tat, hin und her bewegten,
kamen und gingen, dem Zuschauer jedoch
überließen, sich auf der öden Bühne
nach Belieben Paradies und Paläste zu
imaginieren. Wodurch
erwarb sich denn Schröder das große Verdienst,
Shakespeares Stücke auf die deutsche Bühne zu
bringen, als dass er der Epitomator des Epitomators wurde!
Schröder hielt sich ganz allein ans Wirksame, alles
andere warf er weg, ja sogar manches Notwendige, wenn es ihm
die Wirkung auf seine Nation, auf seine Zeit zu stören
schien. So ist es z.B. wahr, dass er durch Weglassung der
ersten Scenen des Königs Lear den Charakter des
Stücks aufgehoben; aber er hatte doch Recht, denn in
dieser Scene erscheint Lear so absurd, dass man seinen
Töchtern in der Folge nicht ganz Unrecht geben kann.
Der Alte jammert einen, aber Mitleid hat man nicht mit ihm
und Mitleid wollte Schröder erregen, so wie Abscheu
gegen die zwar unnatürlichen, aber doch nicht durchaus
zu scheltenden Töchter. In
dem alten Stücke, welches Shakespeare redigiert, bringt
diese Scene im Verlaufe des Stücks die lieblichsten
Wirkungen hervor. Lear entflieht nach Frankreich,
Tochter
und Schwiegersohn, aus romantischer Grille, machen
verkleidet irgend eine Wallfahrt ans Meer und treffen den
Alten, der sie nicht erkennt. Hier wird alles
süß, was Shakespeares hoher tragischer Geist uns
verbittert hat. Eine Vergleichung dieser Stücke macht
dem denkenden Kunstfreunde immer aufs neue
Vergnügen. Nun
hat sich aber seit vielen Jahren das Vorurteil in
Deutschland eingeschlichen, dass man Shakespeare auf der
deutschen Bühne Wort für Wort aufführen
müsse, und wenn Schauspieler und Zuschauer daran
erwürgen sollten. Die Versuche, durch eine
vortreffliche genaue Übersetzung veranlasst, wollten
nirgends gelingen, wovon die weimarische Bühne bei
redlichen und wiederholten Bemühungen das beste Zeugnis
ablegen kann. Will man ein Shakespearisch Stück sehen,
so muss man wieder zu Schröders Bearbeitung greifen;
aber die Redensart, dass auch bei der Vorstellung von
Shakespeare kein Jota zurückbleiben dürfe, so
sinnlos sie ist, hört man immer wiederklingen. Behalten
die Verfechter dieser Meinung die Oberhand, so wird
Shakespeare in wenigen Jahren ganz von der deutschen
Bühne verdrängt sein, welches denn auch kein
Unglück wäre, denn der einsame oder gesellige
Leser wird an ihm desto reinere Freude empfinden. Um
jedoch in dem Sinne, wie wir oben weitläufig
gesprochen, einen Versuch zu machen, hat man Romeo und
Julie für das weimarische Theater redigiert. Die
Grundsätze, wonach solches geschehen, wollen wir
ehestens entwickeln, woraus sich denn vielleicht auch
ergeben wird, warum diese Redaction, deren Vorstellung
keineswegs schwierig ist, jedoch kunstmäßig und
genau behandelt werden muss, auf dem deutschen Theater nicht
gegriffen. Versuche ähnlicher Art sind im Werke und
vielleicht bereitet sich für die Zukunft etwas vor, da
ein häufiges Bemühen nicht immer auf den Tag
wirkt. ... Goethe:
Zum
Schäkespears Tag ... December
2002
Beiträge
zum Morgenblatt für gebildete Stände.
1807-1816.
siehe
auch:
main
page:
Shakespeare
in Europe
University
of Basel, Switzerland
(English
Department)
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