von Balz
Engler .. .. .. .. Wie es dazu kam . Andere Strukturen
folgten: 1879 wurde das Memorial
Theatre
eröffnet (vorerst ohne eigene Truppe); 1887 wurde der
Amerikanische
Brunnen
errichtet, das Geschenk eines amerikanischen Verlegers, ein
neugotisches Monument, das zugleich dem Dichter würdig
und nützlich sein sollte; er diente dem Vieh zur
Tränke. Neben Shakespeare-Zitaten wurde auch eines von
Washington Irving in ihn eingemeisselt, das die
britisch-amerikanische Freundschaft feiert. Es wurde im
fünfzigsten Jahr von Königin Victorias
Thronbesteigung eingeweiht; bei der Einweihungsfeier wurde
betont, wie eng Shakespeare, die britische Krone und die USA
zueinander gehörten. Im folgenden Jahr wurde das
Gower
Monument
eingeweiht, das Shakespeare sitzend auf einem hohen Sockel
zeigt, in den wiederum Shakespeare-Zitate eingemeisselt
sind, und der von Figuren aus seinen Stücken umgeben
ist, die auch allegorisch für Tragödie,
Komödie, Historie und, interessanterweise, Philosophie
stehen sollen.1933 wurde dieses Denkmal aus der Nähe
des Theaters an seinen heutigen Ort gegenüber dem
Parkplatz verlegt. Damit wurde die sakrale Topographie
Stratfords in ihren Hauptzügen abgeschlossen. .. .. .. last changes: November
2001
Basler Zeitung, Magazin, 10. November 2001
Wallfahrt
zum Ort des Dichterkults
Man kehrt die Glaskugel um, wartet einen Moment, stellt sie
wieder auf den Tisch; und es schneit auf das Wahrzeichen des
Orts, der am Sockel angeschrieben ist. In
Stratford-upon-Avon schneit es auf Shakespeare, Figuren aus
seinen Stücken und sein Geburtshaus. Solche Souvenirs
helfen einem, so ungewöhnlich es klingen mag, einen
Klassiker zu definieren. Klassiker haben das Buch verlassen
und existieren auch ausserhalb seiner Deckel: in andern
literarischen Genres, in Theateraufführungen (auch in
Bearbeitung), Filmen, Gemälden, Cartoons. Sie
existieren in Wendungen ("Es war die Nachtigall und nicht
die Lerche"), in Figuren, die uns dazu dienen, Mitmenschen
zu definieren ("ein Romeo") oder in Geschichten, die uns
dazu dienen, unser Leben zu verstehen (Romeo und Julia als
Beispiel für die Tragik einer idealen Liebe). Sie
existieren in all dem, was an andern Dingen in ihrem
Zusammenhang anfällt, eben auch Souvenirs. Und es sind
alle diese Phänomene, die uns auch den Weg zurück
zum klassischen Werk weisen können.
Alle diese Zeichen, ihre Art und ihre Häufigkeit, sagen
uns zusammen etwas über den Status, den ein Werk oder
eine Person in ihrer Kultur einnehmen; sie heben sie
über das Alltägliche hinaus. Dies kann von der
bescheidenen Anerkennung (ein Strassennamen am Ort des
Wirkens) bis zur Errichtung eines Heiligtums
führen.
Stratford als Wallfahrtsort
Shakespeares Stratford bietet dafür ein besonders
eindrückliches Beispiel. Vor einigen Jahren trafen
Besucher von Shakespeares Geburtshaus am Eingang auf eine
metallene Weltkugel, auf der sie lesen konnten: 'From the
four corners of the earth they come / To kiss this shrine,
this mortal breathing saint.' Im Kaufmann von Venedig
beziehen sich diese Worte natürlich nicht auf
Shakespeares Geburtsort; vielmehr braucht sie der Prinz von
Marokko in seiner überschwänglichen Preisrede auf
Portia. Aber was tut's?
Religiöse Begriffe, insbesondere jener der Wallfahrt,
sind im Zusammenhang mit Stratford oft verwendet worden; vom
Mekka der Shakespeare-Verehrer, vom Schrein seiner Geburt
ist die Rede. Oft geschieht dies leicht ironisch, weil der
Shakespeare-Kult als Religion nicht anerkannt ist, und weil
die kommerziellen Interessen der Tourismus-Industrie allzu
deutlich sichtbar bleiben. Aber es lohnt sich, bei allen
Abstrichen, die gemacht werden müssen, diese Begriffe
ernst zu nehmen, nicht zuletzt, weil in der neueren
anthropologischen Forschung die Parallelen zwischen
Tourismus und Wallfahrt betont worden sind. Im Folgenden
soll Stratford deswegen mit Victor und Edith Turner als ein
solcher Ort beschrieben werden, als ein Ort, an dem einst
Wunder geschahen und wieder geschehen mögen, und der
deswegen im Laufe der Geschichte mit symbolischen Strukturen
ausgestattet worden ist: Gebäuden, Statuen und
Elementen der Topographie.
Alle wichtigeren sakralen Stätten befinden sich
innerhalb deutlich markierbarer Grenzen (siehe
Karte).
Dieser Bezirk hat zwei Hauptzugänge, der eine vom
Bahnhof her im Westen, der andere von den Parkplätzen
im Osten. Beide Zugänge sind durch Denkmäler
bezeichnet, den sogenannten Amerikanischen
Brunnen auf
dem Marktplatz und das Gower-Denkmal
am Fluss. Das Geburtshaus
liegt am einen, die Grabeskirche
am andern Ende des Bezirks. Entlang seiner Grenze befinden
sich weitere Stätten: das Royal
Shakespeare Theatre,
die Gebäude des Shakespeare
Birthplace Trust
und das Shakespeare
Institute der Universität
Birmingham
(das Priesterseminar?). Sein symbolisches Zentrum bildet
eine Grube mit dem Fundament von New
Place, dem
Haus, das Shakespeare nach seiner Rückkehr nach
Stratford bewohnte. Es wurde Mitte des achtzehnten
Jahrhunderts abgerissen.
In diesem sakralen Bezirk wird das Alltagsleben - Essen,
Einkaufen, Wohnen - immer wieder mit dem Werk Shakespeares
in Verbindung gebracht und dadurch erhöht, in den Namen
der Restaurants und der angebotenen Speisen, der Läden
und der Hotels. Gleichzeitig erweist die Welt ausserhalb
ihre Reverenz; die Strassenlampen vor dem Theater, zum
Beispiel, tragen die Namen derer, die sie gestiftet haben:
Jordanien, Israel, Portugal, das ungarische Volk, aber auch
die Douglas Corporation, wohl, weil sie einst die Flugzeuge
herstellte, die die amerikanischen Pilger sicher nach
England brachten.
Heilige Stätten
Busse
fahren die Pilger von einer Stätte zur nächsten.
Die Holy
Trinity Kirche
liegt pittoresk am Avon. Sie enthält den ältesten
Schrein, Shakespeares Grab. Dort werden jedes Jahr an seinem
(angenommenen) Geburtstag nach einem Umzug
durch die Stadt Kränze niedergelegt. Sein Denkmal, das
von Leuten errichtet wurde, die ihn noch persönlich
kannten, zeigt einen satten, selbstzufrieden dreinschauenden
Stratforder Bürger, der zwar eine Feder in der Hand
hält, aber so gar nicht dem poetischen Genie
entspricht, zu dem er später gemacht wurde. Dies mag
einer der Gründe sein, weshalb die Kirche unter den
besuchten Stätten relative unbedeutend geblieben
ist.
Das Royal Shakespeare Theatre ist der Ort, an dem
Shakespeares Werk jeden Tag neu aufleben lässt. Aus
aller Welt versammeln sich hier Menschen, um neue Kraft zu
schöpfen. Shakespeares Geist ist gegenwärtig in
der Aufführung seiner Texte; sie werden nur ganz
behutsam den Bedürfnissen der Zeit angepasst. Dass das
Theater am Fluss liegt und auf drei Seiten von Parks und
Feldern umgeben ist, ist bedeutsam. Die Schauspielerin
Constance Collier berichtet in ihren Memoiren aus den
zwanziger Jahren, bei den alljährlichen Festspielen in
Stratford aufzutreten, sei gewesen wie eine Wallfahrt,
as believers go to Lourdes and dip themselves in sacred
waters. One felt in touch with the very spirit of
Shakespeare. ... You dressed for your part and, between
acts, drifted about in a boat, listening to the nightingales
and the rippling water, looking down the river toward
Warwick--the same river that Shakespeare knew, and loved,
and dreamed by as a boy.
Aber der heiligste Schrein ist gewiss das Gebäude,
das als Shakespeares Geburtshaus
gilt. Die Gärten, die es umgeben, heben es ein weiteres
Mal aus seiner sakralen Umgebung heraus und verleihen ihm
einen ländlichen Charakter; in ihnen wurden
ausschliesslich Pflanzen, die Shakespeares Werk erwähnt
werden, angepflanzt. Im oberen Stock des Gebäudes
befindet das Allerheiligste, der Raum, in dem er geboren
worden sein soll. An seinen Wänden haben viele Autoren
und Theaterleute ihre Namen eingeritzt, um zu zeigen, dass
sie hier andächtig verweilten, aber auch, um an der
Kraft teilzuhaben, die von diesem Ort ausgeht.
Dass das Geburtshaus, im Unterschied zum Grab, für die
Besucher so wichtig ist, sagt etwas darüber aus, wie
Shakespeare verehrt wird: als Naturgenie, das keine Regeln
der Kunst zu lernen brauchte, sondern in diese Welt
hineingeboren wurde.
Was hier skizziert worden ist, hat seine Geschichte. Es
ist die Geschichte davon, wie Shakespeare zum bedeutendsten
Dichter Englands und der Welt, ja, zum Genius schlechthin
wurde. In dieser Geschichte lassen sich zwei Phasen
unterscheiden, die ineinander übergehen. In der ersten,
die etwa bis zur Mitte des achtzehnten Jahrhunderts dauerte,
galt er als bedeutender Autor, dem aber, aus der Sicht der
klassizistischen Regelpoetik durchaus Fehler nachgewiesen
werden konnten, und dessen Werke auch entsprechend
umgeschrieben und "verbessert" wurden. In der zweiten Phase,
die ihren Höhepunkt in der zweiten Hälfte des
neunzehnten Jahrhunderts erreichte (und heute noch
vielerorts andauert), bestimmte er als Genie nun die Regeln
selbst, nach denen er zu beurteilen war. Er stand über
allen Kontroversen; wer ihn angriff, disqualifizierte sich
damit selbst. Auch heute noch werden ideologische Positionen
in der Literaturwissenschaft, seien sie konservativ oder
radikal, oft an seinem Beispiel formuliert - weil er
weiterhin als sicherer Wert gilt.
Stratford als heiliger Ort bildete sich in der zweiten Phase
heraus. 1769 veranstaltete der berühmte Schauspieler
David Garrick erstmals eine grosse Feier in Stratford, bei
der zwar nicht eine einzige Zeile von Shakespeare gesprochen
wurde, bei der Garrick aber in einer Ode auf den Dichter
Stratford erstmals als "enchanted ground" besang, als
verzauberten Boden. Als der amerikanische Autor Washington
Iriving 1815 nach Stratford kam, beschrieb er seinen Besuch
als eine poetische Wallfahrt. Sein Bericht diente vielen
spätern amerikanischen Pilgern als Reiseführer und
Andachtsbuch.
Von etwa 1840 an bildeten sich in Stratford die symbolischen
Strukturen eines Wallfahrtsorts heraus. Das Geburtshaus
wurde als erstes dieser neuen sakralen Bestimmung angepasst.
Ursprünglich stand es in einer Reihe (siehe Abbildung);
im späten achtzehnten Jahrhundert war es ziemlich
heruntergekommen und beherbergte eine Metzgerei. 1844 war es
doch schon so bedeutsam geworden, dass der amerikanische
Zirkusunternehmer P.T. Barnum es kaufen und in seinem
American Museum in New York ausstellen wollte. Das schreckte
die Engländer auf; stattdessen wurde es für die
Nation gekauft und restauriert. Die Häuser neben ihm
wurden abgerissen, um, wie es hiess, das Gebäude vor
Bränden zu schützen, aber auch mit der Folge, dass
ein ideologisches Programm - Shakespeare als Kind der Natur
- deutlicher sichtbar wurde.
Das Phänomen der Wallfahrt
Wie konnten sich die Strukturen herausbilden, die heute
Stratford prägen? Das Phänomen der Wallfahrt, wie
es von den Turners beschrieben worden ist, gibt darauf eine
Antwort. Anfangs sind solche Wallfahrten eher spontan und
zufällig, aber sie gewinnen bald eine feste Form. Die
Pilger werden sich bewusst, dass sie auf ihrer Reise, aber
auch am heiligen Ort, zu dem sie unterwegs sind, sich so
verhalten wie andere vor ihnen. Sie folgen einer
bewährten Praxis und brauchen sich nicht mehr zu
fragen, was die einzelnen Elemente dieser Praxis bedeuten.
Mit andern Worten, sie wiederholen bestimmte Handlungen als
Ritual. Und es ist diese Art von ritueller Wiederholung,
welche einzelne Orte und Gegenstände aus ihrer
alltäglichen Umgebung herausheben und sie zu Symbolen
machen, zu etwas, dem man Bedeutsamkeit zuschreibt. Wichtig
ist dabei nach dem Anthropologen Dan Sperber nicht, was der
Ort oder der Gegenstand bedeuten, sondern dass sie es tun.
Verschiedene Menschen, Gruppen, auch Epochen mögen die
Symbole verschieden deuten, aber sie hören nicht auf
damit und sind sich einig, dass sie nach Interpretation
verlangen. Es sind solche rituellen Prozesse, in der Form
von Pilgerfahrt und ihrer säkularen Nachfolgerin, dem
Tourismus, welche die Strukturen Stratfords über
längere Zeit hin haben entstehen lassen.
Klassiker und rituelle Praxis
Was hat das mit den Klassikern zu tun, die am Anfang
erwähnt wurden? Der rituelle Prozess, der Bedeutsamkeit
schafft, spielt sich nicht nur bei Orten und
Gegenständen ab, sondern in jeder kulturellen Praxis.
Rituelle Wiederholung schafft Bedeutsamkeit auch auf
Gebieten, die vielen von uns näher vertraut sind, etwa
in der Literatur und dem Theater. Sie spielt ihre Rolle bei
der Aufführung von Stücken und der Lektüre
von Büchern. Zuerst werden Werke aufgeführt und
gelesen, weil sie etwas Neues und Interessantes zu bieten
scheinen. Wenn sie später wieder aufgeführt,
wieder gelesen, eben rituell wiederholt werden, so beginnt
sich dieser Prozess von der ursprünglichen Motivation
zu lösen und selbst am Leben zu erhalten. Die Werke
werden aufgeführt und gelesen, bald auch unterrichtet,
weil zu kulturellen Symbolen geworden sind, zu einem Teil
dessen, was man in der Literaturwissenschaft den Kanon
nennt. Nun können sie dazu verwendet werden,
kontroverse Positionen zu artikulieren; aber
gleichgültig, wofür sie in Anspruch genommen
werden, sie werden rituell widerholt und dadurch in ihrer
Bedeutsamkeit bekräftigt.
Aber die sakrale Topographie Stratfords erinnert uns auch
daran, wie fragil der Status von Autoren und Werken sein
kann. Die Aufführung und die Lektüre von Werken
ist nicht selbstverständlich: Sie müssen von
Theatern und Verlegern akzeptiert und vom Publikum gut
aufgenommen werden; dabei spielen viele Faktoren eine Rolle,
die nichts mit Qualität und oft auch wenig mit Kunst zu
tun haben. Und sie müssen sich danach so etablieren
können, dass der rituelle Prozess der Wiederholung
anfängt, sich selbst am Leben zu erhalten. Dabei
wirken, nicht nur im Falle Shakespeares, Kult und Rezeption
des Werkes zusammen und stützen sich gegenseitig; sie
voneinander zu trennen, macht keinen Sinn.
Stratford vor dem Ende?
Kann der geschilderte Prozess auch ein Ende nehmen? Es
überrascht nicht, dass dies kaum untersucht worden ist.
Stratford erlebt zur Zeit Anzeichen davon: Die
Royal
Shakespeare Company
reduziert ihr Programm am Ort und will sich zu einer
globalen Institution mausern; das neue Globe
Theatre in
London erlaubt es vielen Touristen aus Uebersee, Shakespeare
ihre Reverenz ohne Fahrt über Land in London zu
erweisen; dem Shakespeare
Institute der
Universität Birmingham droht aus finanziellen
Gründen die Schliessung; und die Touristenströme -
gerade auch aus Amerika - sind aus verschiedenen
Gründen am Zurückgehen. Aber dass Stratford wieder
einfach zu einem hübschen Landstädtchen mit einem
wöchentlichen Markt wird, wie es das vor der Mitte des
achtzehnten Jahrhunderts war, ist unvorstellbar.
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