Basler Zeitung, Magazin, 10. November
2001

   

Wallfahrt zum Ort des Dichterkults

von Balz Engler

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Man kehrt die Glaskugel um, wartet einen Moment, stellt sie wieder auf den Tisch; und es schneit auf das Wahrzeichen des Orts, der am Sockel angeschrieben ist. In Stratford-upon-Avon schneit es auf Shakespeare, Figuren aus seinen Stücken und sein Geburtshaus. Solche Souvenirs helfen einem, so ungewöhnlich es klingen mag, einen Klassiker zu definieren. Klassiker haben das Buch verlassen und existieren auch ausserhalb seiner Deckel: in andern literarischen Genres, in Theateraufführungen (auch in Bearbeitung), Filmen, Gemälden, Cartoons. Sie existieren in Wendungen ("Es war die Nachtigall und nicht die Lerche"), in Figuren, die uns dazu dienen, Mitmenschen zu definieren ("ein Romeo") oder in Geschichten, die uns dazu dienen, unser Leben zu verstehen (Romeo und Julia als Beispiel für die Tragik einer idealen Liebe). Sie existieren in all dem, was an andern Dingen in ihrem Zusammenhang anfällt, eben auch Souvenirs. Und es sind alle diese Phänomene, die uns auch den Weg zurück zum klassischen Werk weisen können.

Alle diese Zeichen, ihre Art und ihre Häufigkeit, sagen uns zusammen etwas über den Status, den ein Werk oder eine Person in ihrer Kultur einnehmen; sie heben sie über das Alltägliche hinaus. Dies kann von der bescheidenen Anerkennung (ein Strassennamen am Ort des Wirkens) bis zur Errichtung eines Heiligtums führen.

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Stratford als Wallfahrtsort

Shakespeares Stratford bietet dafür ein besonders eindrückliches Beispiel. Vor einigen Jahren trafen Besucher von Shakespeares Geburtshaus am Eingang auf eine metallene Weltkugel, auf der sie lesen konnten: 'From the four corners of the earth they come / To kiss this shrine, this mortal breathing saint.' Im Kaufmann von Venedig beziehen sich diese Worte natürlich nicht auf Shakespeares Geburtsort; vielmehr braucht sie der Prinz von Marokko in seiner überschwänglichen Preisrede auf Portia. Aber was tut's?

Religiöse Begriffe, insbesondere jener der Wallfahrt, sind im Zusammenhang mit Stratford oft verwendet worden; vom Mekka der Shakespeare-Verehrer, vom Schrein seiner Geburt ist die Rede. Oft geschieht dies leicht ironisch, weil der Shakespeare-Kult als Religion nicht anerkannt ist, und weil die kommerziellen Interessen der Tourismus-Industrie allzu deutlich sichtbar bleiben. Aber es lohnt sich, bei allen Abstrichen, die gemacht werden müssen, diese Begriffe ernst zu nehmen, nicht zuletzt, weil in der neueren anthropologischen Forschung die Parallelen zwischen Tourismus und Wallfahrt betont worden sind. Im Folgenden soll Stratford deswegen mit Victor und Edith Turner als ein solcher Ort beschrieben werden, als ein Ort, an dem einst Wunder geschahen und wieder geschehen mögen, und der deswegen im Laufe der Geschichte mit symbolischen Strukturen ausgestattet worden ist: Gebäuden, Statuen und Elementen der Topographie.

Alle wichtigeren sakralen Stätten befinden sich innerhalb deutlich markierbarer Grenzen (siehe
Karte). Dieser Bezirk hat zwei Hauptzugänge, der eine vom Bahnhof her im Westen, der andere von den Parkplätzen im Osten. Beide Zugänge sind durch Denkmäler bezeichnet, den sogenannten Amerikanischen Brunnen auf dem Marktplatz und das Gower-Denkmal am Fluss. Das Geburtshaus liegt am einen, die Grabeskirche am andern Ende des Bezirks. Entlang seiner Grenze befinden sich weitere Stätten: das Royal Shakespeare Theatre, die Gebäude des Shakespeare Birthplace Trust und das Shakespeare Institute der Universität Birmingham (das Priesterseminar?). Sein symbolisches Zentrum bildet eine Grube mit dem Fundament von New Place, dem Haus, das Shakespeare nach seiner Rückkehr nach Stratford bewohnte. Es wurde Mitte des achtzehnten Jahrhunderts abgerissen.

In diesem sakralen Bezirk wird das Alltagsleben - Essen, Einkaufen, Wohnen - immer wieder mit dem Werk Shakespeares in Verbindung gebracht und dadurch erhöht, in den Namen der Restaurants und der angebotenen Speisen, der Läden und der Hotels. Gleichzeitig erweist die Welt ausserhalb ihre Reverenz; die Strassenlampen vor dem Theater, zum Beispiel, tragen die Namen derer, die sie gestiftet haben: Jordanien, Israel, Portugal, das ungarische Volk, aber auch die Douglas Corporation, wohl, weil sie einst die Flugzeuge herstellte, die die amerikanischen Pilger sicher nach England brachten.

Shakespeare memorial

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Heilige Stätten

Busse fahren die Pilger von einer Stätte zur nächsten. Die Holy Trinity Kirche liegt pittoresk am Avon. Sie enthält den ältesten Schrein, Shakespeares Grab. Dort werden jedes Jahr an seinem (angenommenen) Geburtstag nach einem Umzug durch die Stadt Kränze niedergelegt. Sein Denkmal, das von Leuten errichtet wurde, die ihn noch persönlich kannten, zeigt einen satten, selbstzufrieden dreinschauenden Stratforder Bürger, der zwar eine Feder in der Hand hält, aber so gar nicht dem poetischen Genie entspricht, zu dem er später gemacht wurde. Dies mag einer der Gründe sein, weshalb die Kirche unter den besuchten Stätten relative unbedeutend geblieben ist.

Das Royal Shakespeare Theatre ist der Ort, an dem Shakespeares Werk jeden Tag neu aufleben lässt. Aus aller Welt versammeln sich hier Menschen, um neue Kraft zu schöpfen. Shakespeares Geist ist gegenwärtig in der Aufführung seiner Texte; sie werden nur ganz behutsam den Bedürfnissen der Zeit angepasst. Dass das Theater am Fluss liegt und auf drei Seiten von Parks und Feldern umgeben ist, ist bedeutsam. Die Schauspielerin Constance Collier berichtet in ihren Memoiren aus den zwanziger Jahren, bei den alljährlichen Festspielen in Stratford aufzutreten, sei gewesen wie eine Wallfahrt,

as believers go to Lourdes and dip themselves in sacred waters. One felt in touch with the very spirit of Shakespeare. ... You dressed for your part and, between acts, drifted about in a boat, listening to the nightingales and the rippling water, looking down the river toward Warwick--the same river that Shakespeare knew, and loved, and dreamed by as a boy.

Aber der heiligste Schrein ist gewiss das Gebäude, das als Shakespeares
Geburtshaus gilt. Die Gärten, die es umgeben, heben es ein weiteres Mal aus seiner sakralen Umgebung heraus und verleihen ihm einen ländlichen Charakter; in ihnen wurden ausschliesslich Pflanzen, die Shakespeares Werk erwähnt werden, angepflanzt. Im oberen Stock des Gebäudes befindet das Allerheiligste, der Raum, in dem er geboren worden sein soll. An seinen Wänden haben viele Autoren und Theaterleute ihre Namen eingeritzt, um zu zeigen, dass sie hier andächtig verweilten, aber auch, um an der Kraft teilzuhaben, die von diesem Ort ausgeht.

Dass das Geburtshaus, im Unterschied zum Grab, für die Besucher so wichtig ist, sagt etwas darüber aus, wie Shakespeare verehrt wird: als Naturgenie, das keine Regeln der Kunst zu lernen brauchte, sondern in diese Welt hineingeboren wurde.

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Wie es dazu kam

Was hier skizziert worden ist, hat seine Geschichte. Es ist die Geschichte davon, wie Shakespeare zum bedeutendsten Dichter Englands und der Welt, ja, zum Genius schlechthin wurde. In dieser Geschichte lassen sich zwei Phasen unterscheiden, die ineinander übergehen. In der ersten, die etwa bis zur Mitte des achtzehnten Jahrhunderts dauerte, galt er als bedeutender Autor, dem aber, aus der Sicht der klassizistischen Regelpoetik durchaus Fehler nachgewiesen werden konnten, und dessen Werke auch entsprechend umgeschrieben und "verbessert" wurden. In der zweiten Phase, die ihren Höhepunkt in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts erreichte (und heute noch vielerorts andauert), bestimmte er als Genie nun die Regeln selbst, nach denen er zu beurteilen war. Er stand über allen Kontroversen; wer ihn angriff, disqualifizierte sich damit selbst. Auch heute noch werden ideologische Positionen in der Literaturwissenschaft, seien sie konservativ oder radikal, oft an seinem Beispiel formuliert - weil er weiterhin als sicherer Wert gilt.

Stratford als heiliger Ort bildete sich in der zweiten Phase heraus. 1769 veranstaltete der berühmte Schauspieler David Garrick erstmals eine grosse Feier in Stratford, bei der zwar nicht eine einzige Zeile von Shakespeare gesprochen wurde, bei der Garrick aber in einer Ode auf den Dichter Stratford erstmals als "enchanted ground" besang, als verzauberten Boden. Als der amerikanische Autor Washington Iriving 1815 nach Stratford kam, beschrieb er seinen Besuch als eine poetische Wallfahrt. Sein Bericht diente vielen spätern amerikanischen Pilgern als Reiseführer und Andachtsbuch.


Shakespeare's Birthplace


Von etwa 1840 an bildeten sich in Stratford die symbolischen Strukturen eines Wallfahrtsorts heraus. Das Geburtshaus wurde als erstes dieser neuen sakralen Bestimmung angepasst. Ursprünglich stand es in einer Reihe (siehe Abbildung); im späten achtzehnten Jahrhundert war es ziemlich heruntergekommen und beherbergte eine Metzgerei. 1844 war es doch schon so bedeutsam geworden, dass der amerikanische Zirkusunternehmer P.T. Barnum es kaufen und in seinem American Museum in New York ausstellen wollte. Das schreckte die Engländer auf; stattdessen wurde es für die Nation gekauft und restauriert. Die Häuser neben ihm wurden abgerissen, um, wie es hiess, das Gebäude vor Bränden zu schützen, aber auch mit der Folge, dass ein ideologisches Programm - Shakespeare als Kind der Natur - deutlicher sichtbar wurde.

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Das Phänomen der Wallfahrt

Andere Strukturen folgten: 1879 wurde das Memorial Theatre eröffnet (vorerst ohne eigene Truppe); 1887 wurde der Amerikanische Brunnen errichtet, das Geschenk eines amerikanischen Verlegers, ein neugotisches Monument, das zugleich dem Dichter würdig und nützlich sein sollte; er diente dem Vieh zur Tränke. Neben Shakespeare-Zitaten wurde auch eines von Washington Irving in ihn eingemeisselt, das die britisch-amerikanische Freundschaft feiert. Es wurde im fünfzigsten Jahr von Königin Victorias Thronbesteigung eingeweiht; bei der Einweihungsfeier wurde betont, wie eng Shakespeare, die britische Krone und die USA zueinander gehörten. Im folgenden Jahr wurde das Gower Monument eingeweiht, das Shakespeare sitzend auf einem hohen Sockel zeigt, in den wiederum Shakespeare-Zitate eingemeisselt sind, und der von Figuren aus seinen Stücken umgeben ist, die auch allegorisch für Tragödie, Komödie, Historie und, interessanterweise, Philosophie stehen sollen.1933 wurde dieses Denkmal aus der Nähe des Theaters an seinen heutigen Ort gegenüber dem Parkplatz verlegt. Damit wurde die sakrale Topographie Stratfords in ihren Hauptzügen abgeschlossen.

Wie konnten sich die Strukturen herausbilden, die heute Stratford prägen? Das Phänomen der Wallfahrt, wie es von den Turners beschrieben worden ist, gibt darauf eine Antwort. Anfangs sind solche Wallfahrten eher spontan und zufällig, aber sie gewinnen bald eine feste Form. Die Pilger werden sich bewusst, dass sie auf ihrer Reise, aber auch am heiligen Ort, zu dem sie unterwegs sind, sich so verhalten wie andere vor ihnen. Sie folgen einer bewährten Praxis und brauchen sich nicht mehr zu fragen, was die einzelnen Elemente dieser Praxis bedeuten. Mit andern Worten, sie wiederholen bestimmte Handlungen als Ritual. Und es ist diese Art von ritueller Wiederholung, welche einzelne Orte und Gegenstände aus ihrer alltäglichen Umgebung herausheben und sie zu Symbolen machen, zu etwas, dem man Bedeutsamkeit zuschreibt. Wichtig ist dabei nach dem Anthropologen Dan Sperber nicht, was der Ort oder der Gegenstand bedeuten, sondern dass sie es tun. Verschiedene Menschen, Gruppen, auch Epochen mögen die Symbole verschieden deuten, aber sie hören nicht auf damit und sind sich einig, dass sie nach Interpretation verlangen. Es sind solche rituellen Prozesse, in der Form von Pilgerfahrt und ihrer säkularen Nachfolgerin, dem Tourismus, welche die Strukturen Stratfords über längere Zeit hin haben entstehen lassen.

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Klassiker und rituelle Praxis

Was hat das mit den Klassikern zu tun, die am Anfang erwähnt wurden? Der rituelle Prozess, der Bedeutsamkeit schafft, spielt sich nicht nur bei Orten und Gegenständen ab, sondern in jeder kulturellen Praxis. Rituelle Wiederholung schafft Bedeutsamkeit auch auf Gebieten, die vielen von uns näher vertraut sind, etwa in der Literatur und dem Theater. Sie spielt ihre Rolle bei der Aufführung von Stücken und der Lektüre von Büchern. Zuerst werden Werke aufgeführt und gelesen, weil sie etwas Neues und Interessantes zu bieten scheinen. Wenn sie später wieder aufgeführt, wieder gelesen, eben rituell wiederholt werden, so beginnt sich dieser Prozess von der ursprünglichen Motivation zu lösen und selbst am Leben zu erhalten. Die Werke werden aufgeführt und gelesen, bald auch unterrichtet, weil zu kulturellen Symbolen geworden sind, zu einem Teil dessen, was man in der Literaturwissenschaft den Kanon nennt. Nun können sie dazu verwendet werden, kontroverse Positionen zu artikulieren; aber gleichgültig, wofür sie in Anspruch genommen werden, sie werden rituell widerholt und dadurch in ihrer Bedeutsamkeit bekräftigt.

Aber die sakrale Topographie Stratfords erinnert uns auch daran, wie fragil der Status von Autoren und Werken sein kann. Die Aufführung und die Lektüre von Werken ist nicht selbstverständlich: Sie müssen von Theatern und Verlegern akzeptiert und vom Publikum gut aufgenommen werden; dabei spielen viele Faktoren eine Rolle, die nichts mit Qualität und oft auch wenig mit Kunst zu tun haben. Und sie müssen sich danach so etablieren können, dass der rituelle Prozess der Wiederholung anfängt, sich selbst am Leben zu erhalten. Dabei wirken, nicht nur im Falle Shakespeares, Kult und Rezeption des Werkes zusammen und stützen sich gegenseitig; sie voneinander zu trennen, macht keinen Sinn.

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Stratford vor dem Ende?

Kann der geschilderte Prozess auch ein Ende nehmen? Es überrascht nicht, dass dies kaum untersucht worden ist. Stratford erlebt zur Zeit Anzeichen davon: Die
Royal Shakespeare Company reduziert ihr Programm am Ort und will sich zu einer globalen Institution mausern; das neue Globe Theatre in London erlaubt es vielen Touristen aus Uebersee, Shakespeare ihre Reverenz ohne Fahrt über Land in London zu erweisen; dem Shakespeare Institute der Universität Birmingham droht aus finanziellen Gründen die Schliessung; und die Touristenströme - gerade auch aus Amerika - sind aus verschiedenen Gründen am Zurückgehen. Aber dass Stratford wieder einfach zu einem hübschen Landstädtchen mit einem wöchentlichen Markt wird, wie es das vor der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts war, ist unvorstellbar.


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Shakespeare in Europe
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